„Du bist es“, stellte ich neutral fest.
Kai brauchte einen Moment, um sich zu fangen.
„Ja, ich bin es“, sagte sie dann langsam. „So schnell und … burschikos … hast du die Tür noch nie geöffnet. Standest du etwa dahinter?“
„Hm-hm“, nickte ich und schaute mich draußen suchend um.
„Anscheinend erwartest du jemanden und aus deiner Art der Begrüßung schließe ich, dass ich das nicht bin“, meinte Kai wieder so ruhig wie immer.
„Stimmt.“
„Darf ich trotzdem reinkommen?“
„Was? Jaja, von mir aus“, sagte ich fahrig und ließ meinen Blick weiterhin unruhig durch die Landschaft vor meiner Feendrachenhöhle schweifen. Irgendwann merkte ich, wie mich etwas am Hinterlauf berührte. Ich blickte hinunter. Es war Kai, die mich antippte.
„Lässt du mich denn auch vorbei?“
„Wie?“, machte ich verwirrt. Dann erst begriff ich, dass ich mit meiner imposanten Drachenstatur den gesamten Höhleneingang blockierte und ein Durchkommen für Kai unmöglich war.
„Natürlich. Entschuldigung“, sagte ich und gab den Weg frei. Kai trat ein und ich schloss, nachdem ich nochmals hinausgeschaut hatte, die Tür. Dann bezog ich wieder meine Warteposition und begann erneut mit beiden Klauen nervös herumzutappen. Ich starrte auf die Tür.
„Ich wollte mal sehen, wie weit du mit dem Drachenschnupfen bist“, sprach Kai.
„Der Schnupfen ist weg, ich bin wieder gesund“, sagte ich kurz angebunden.
„Offensichtlich“, meinte Kai. „Du siehst wesentlich besser aus.“
„Hm“, machte ich geistesabwesend.
„Und … sonst so?“, setzte Kai erneut an.
„Alles bestens.“
„Aha.“ Kai wartete einen Moment. „Bleiben wir jetzt die ganze Zeit an der Tür stehen oder gehen wir auch mal weiter in deine Höhle?“
Ich wandte meinen Kopf.
„In die Höhle? Ich weiß nicht … „
„Du benimmst dich irgendwie seltsam, findest du nicht?“ Kai sah mich fragend an. „Ist bei dir wirklich alles in Ordnung? Wieso stehst du die ganze Zeit hinter der Tür?“
„Seltsam …“, wiederholte ich monoton. Ich hatte nicht viel von Kais Gerede mitbekommen. „Du hast recht, es ist seltsam, dass er noch nicht da ist. Er hätte längst kommen sollen. Er ist viel zu spät.“
„Wer?“
„Sonst ist er manchmal so früh da, dass er mich aus dem Nest klingelt …“
„Wer?“
„… und das meist nur, um mir wieder alles mögliche für die undankbare Nachbarschaft anzudrehen …“
„Wer denn?“
„… aber wenn man dann einmal selbst auf etwas wartet …“
„Würdest du mir jetzt endlich sagen, auf wen du wartest?!“, verlangte Kai eindringlich.
Ich schaute sie verwundert an.
„Du musst nicht schreien“, sagte ich dann konsterniert. „Ich kann dich sehr gut hören.“
„Ich weiß nicht …“, sprach Kai wieder leiser. „Also?“
„Also, was?“
„Ich habe dich etwas gefragt und würde gerne eine Antwort haben.“
„Du hast mich nichts gefragt“, gab ich überzeugt zurück, „bis auf wie es mir geht und ob wir in die Höhle reingehen wollen und darauf habe ich geantwortet.“
„Und da ist sie wieder“, sagte Kai seufzend, „deine selektive Wahrnehmung.“
„Unsinn“, meinte ich und stemmte die Vorderklauen in die Seiten. „Wenn du noch etwas anderes gefragt hättest, hätte ich es doch mitbekommen.“
„Nein, hättest du nicht. Deshalb heißt es selektive Wahrnehmung.“
„Ach das ist doch …“
In diesem Moment klingelte es wieder. Blitzschnell drehte ich mich um und griff nach dem Türknauf. Diesmal hielt ich die Tür wirklich in den Vorderklauen.
„Klüpfel, Stella“, freute sich Kai. Sie lugte zwischen meinen Drachenläufen hindurch. „Herein, wir warten schon auf euch.“
„Nein, tun wir nicht“, sagte ich unwirsch. Und wieso lud Kai überhaupt meine Gäste, auch wenn ich gar nicht wusste, dass sie mich besuchen würden, ein, hereinzukommen?
„Du musst schon zur Seite gehen, damit sie eintreten können. Schließlich hast du sie eingeladen“, sprach Kai.
„Nein, hab ich nicht“, entgegnete ich, machte aber trotzdem einen Schritt zur Seite. Die Tür hielt ich dabei mit beiden Klauen fest. Stella hüpfte ausgelassen in meine Höhle und sprang um Kai herum. Klüpfel hatte noch nicht einmal die Hand von der Klingelhöhe hinuntergenommen. Er stand da wie eine Salzsäule.
„Hallo Nachbar …“, begann Klüpfel im bekannten Schneckentempo zu sprechen. „Wir wollten vorbeischauen und Hallo sagen.“
„Jetzt mach schon Klüpfel, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit“, sagte ich ungeduldig.
„He, mal nicht so unhöflich“, ermahnte mich Kai. „Ist doch kein Wunder, dass er starr ist vor Schreck. Bei dem Empfang.“ Und an Klüpfel gewandt. „Tritt ein, bring Glück herein.“
Ich verkniff mir eine bissige Bemerkung und überlegte stattdessen, ob ich die Tür nicht lieber gleich beiseite stellen sollte, anstatt sie lose vor dem Eingang zu positionieren. So konnte ich wenigstens problemlos nach draußen sehen.
„Und was ist jetzt?“, hörte ich Kai irgendwann fragen, als Klüpfel endlich neben Kai stand und Stella sich neben Klüpfel gesetzt hatte. „Sind jetzt alle da, auf die du gewartet hast?“
„Nein“, antwortete ich knurrig, drehte mich Kai zu und verdeckte so den Eingang. „Ich hab auch gar nicht auf euch gewartet.“
„Genau da waren wir stehengeblieben“, meinte Kai leichthin. „Also, auf wen wartest du denn nun so ungeduldig?“
„Huch, wo ist denn die Tür hin?“, hörten wir eine flötende Stimme von draußen.
„Schneewittchen!“, rief Kai freudig.
Ich ging erneut einen Schritt zur Seite und drehte den Hals in Richtung Eingang. Tatsächlich, da stand Schneewittchen mit ihren sieben Zwergen. Sie hielt einen Korb in den Händen.
„Darf man eintreten?“, fragte sie.
„Na klar“, sagte Kai und winkte sie heran. Ich batschte mir mit beiden Vorderklauen über die Schnauze. Das durfte alles nicht wahr sein!
„Hier meine Lieben, ich hab euch einen kleinen Präsentkorb mitgebracht. Wir waren zu Besuch bei meiner Stiefmutter, die hinter den sieben Bergen lebt. Sie hat uns jede Menge Obst mitgegeben. Auch ein paar Äpfel, die hab ich euch mit reingelegt. Ihr wisst ja, ich habs nicht so mit Äpfeln.“
„Oh, das ist aber sehr aufmerksam, vielen Dank“, sagte Kai und nahm den Korb entgegen. Die sieben Zwerge reihten sich brav hinter Schneewittchen auf. Mittlerweile drückte sich die halbe Nachbarschaft in meinem Höhleneingang herum. Nur der einzige, den ich wirklich erwartete, sehnlichst erwartete, war noch immer nicht aufgetaucht.
„Was ist los? Warum stehen wir alle hier herum?“, fing Schneewittchen ebenfalls an.
„Keine Ahnung, wir warten auf jemanden“, antwortete Kai.
„Aha“, meinte Schneewittchen erstaunt, „und auf wen?“
„Tjaaa …“, sprach Kai gedehnt. „Das wissen wir nicht.“
Schneewittchen blickte mich verblüfft an.
„Ist es ein Geheimnis?“, fragte sie dann.
„Nein“, presste ich genervt durch die Zähne hindurch. „Es ist kein Geheimnis. Aber zum einen will ich es nicht sagen und zum anderen bin ich noch nicht dazu gekommen.“
„Wozu … es nicht zu sagen oder es doch anders zu wollen?“, hakte Schneewittchen verwirrt nach.
„Hnggf“, war alles, was ich dazu bemerkten konnte, während ich ein Kichern von Kai vernahm.
Plötzlich hörten wir ein lautes Poltern aus dem hinteren Teil meiner Höhle. Alle Augen suchten nach der Ursache des Geräuschs.
„Stella“, sagte Klüpfel in gewohnt monotoner Zeitlupenartigkeit.
„Ach herrjechen!“, ergänzte Schneewittchen. „Das Tierchen hat da wohl was umgeworfen.“
Stella war bei weitem schon seit längerer Zeit kein ‚Tierchen‘ mehr. Besonders in den letzten Monaten war der Säbelzahnbiber sowohl in die Höhe als auch Breite geschossen und damit beinahe ausgewachsen. Es würde nicht mehr lange dauern und Klüpfel würde sein Pflegekind in die freie Natur entlassen.
„Stella!“, blaffte ich um einiges lauter, während ich mich auf die Unruhestifterin zubewegte. „Musst du überall deine riesigen Zähne hineinstecken?“
„Nun mal langsam“, sprach Kai. Sie und alle anderen waren mir bis vor den Kamin gefolgt. „Was ist das überhaupt für ein Holzhaufen? Sind das etwa Spinnräder?“
„Ja, und?!“ Ich ließ Stella nicht aus den Augen. Der Säbelzahnbiber kroch schuldbewusst hinter Klüpfel und versuchte sich dort zu verstecken. Was natürlich total albern war und auch so aussah, weil Stella wie bereits erwähnt mindestens ein Drittel größer und breiter als der kleine Zyklop war. „Ich hatte sie hier fein säuberlich aufgestapelt. Bis dieser Säbelzahnbiber kam und alles umschmeißen musste.“
„Aber wozu?“, fragte Kai. „Willst du etwa spinnen lernen?“
„Nein, das ist weil …“
„Iigggh!!“, kreischte Schneewittchen auf, „da ist eine Hand! Seht mal, da schaut eine Hand aus dem Spinnradhaufen hervor.“
„Könntet Ihr bitte die Güte haben und mir hier heraushelfen?“, hörte man gedämpft eine Stimmte aus dem Spinnradhaufen sprechen. Dazu bewegte sich die Hand. „Es wird langsam etwas stickig hier unten.“
„Da ist jemand drunter“, rief Schneewittchen aufgeregt und kommandierte augenblicklich: „Zwerge! Sofort antreten zur Rettungsaktion! Ich will hier ein sauberes Spinnradmikado sehen. Die Zielperson ist verschüttet und wir wissen nicht, in welchem Zustand sie sich befindet. Damit gilt: Geschwindigkeit und Vorsicht!“
Es dauerte nur wenige Augenblicke und die flinken Zwerge bauten den Spinnradhaufen in einem Tempo von oben nach unten ab, dass man nur staunen konnte. Und dementsprechend kam auch blitzschnell die verschüttete Person ans Höhlenlicht.
„Aber … das ist ja ein Prinz“, rief Schneewittchen überrascht aus. Sie starrte den Recken in Pluderhosen, der sehr zerdrückt zwischen den Spinnrädern lag, mit offenem Mund an. „Und noch dazu ein gutaussehender“, fügte sie leiser hinzu.
„Holde Dame“, ächzte der Prinz. „Mich deucht, Euch verdanke ich meine Rettung.“
„Und einer, der sich zu benehmen weiß.“ Schneewittchen flüsterte nur noch. „Gut, dass Rapunzel nicht hier ist.“
In der Zwischenzeit versuchte sich der Prinz, der aussah wie ein auf dem Rücken liegender Käfer, aus seiner misslichen Lage zu befreien.
„Zwerge!“
Mehr musste Schneewittchen nicht sagen, sofort wurde der Prinz von vielen kleinen Händen emporgehoben und Schneewittchen direkt vor die Füße gestellt.
„Oh junge Maid! Erlaubt mir, dass ich mich mit einem Handkuss bedanke!“, seierte der Prinzling herum und versuchte, sich galant zu verbeugen. Da er aber ziemlich ramponiert war, sah diese Verbeugung mehr als stokelig aus. Schneewittchen schien dies nichts auszumachen. Sie kicherte und drehte sich hin und her, als wäre sie es gewesen, der die Spinnräder auf den Kopf gefallen waren.
„Jung, hihi …“, machte sie und reichte dem Gecken ihre Hand dar, der sie mit einem feuchten, schmatzenden Kuss beschlabberte.
„Wieso lag da ein Prinz unter dem Spinnradhaufen?“, wollte Kai von mir wissen.
„Ist doch egal“, säuselte Schneewittchen. Sie und der Prinz hielten Händchen und hatten nur noch Augen füreinander.
„Weil er in meinem Lesesessel gewartet hat“, antwortete ich.
„Und wieso hat er dort gewartet?“, fragte Kai.
„Na weil er doch die Prinzessin nochmal küssen sollte?"
„Welche Prinzessin? Schneewittchen? Aber ich denke, die hast du nicht eingeladen“, meinte Kai.
„Nein, doch nicht Schneewittchen“, erwiderte ich. „Ich meinte die Prinzessin, die in meinem Nest liegt und schläft.“
„In deinem Nest liegt eine Prinzessin?“, wiederholte Kai ungläubig. Dann schritt sie um den Spinnradhaufen herum und erblickte dahinter in der Höhlennische mein Goldmünzennest und darin die schlafende Prinzessin. „Tatsächlich. Da liegt eine Prinzessin und schläft.“
„Aber das sag ich doch“, sagte ich.
Kai drehte sich wieder zu mir, verschränkte die Arme und sah mich ernst an.
„Jetzt mal für uns alle, die wir hier stehen und nichts verstehen: Was ist hier los?“
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