Literatur

Lyneham – Fremde neue Welt

An dem Tag, an dem Henry zwölf Jahre alt wird, endet das Leben, wie er es kannte. Er flieht mit seiner Familie von der unbewohnbaren Erde und findet sich auf Perm wieder, einem lebensfeindlichen Mond in einem entfernten Sonnensystem. Zusammen mit seinem Vater und seinen Geschwistern lebt Henry nun in einer Welt, die sie in Biome einsperrt.

Auch auf der Erde waren die Menschen zuletzt gezwungen, in sogenannten Biomen zu leben, denn nur dort "war der Weltraum nicht auf die Erde gekommen" und ein Überleben überhaupt noch möglich. Als Wissenschaftlerin der Firma Rayser war es Henrys Mutter Mildred möglich, die Familie auf den weit entfernten Mond Perm bringen zu lassen. Doch während Henry, sein älterer Bruder Chester, seine jüngere Schwester Loy und sein Vater bereits das Raumschiff mit den Stasiskammern besteigen, entschließt seine Mutter, ein späteres Raumschiff zu nehmen und verspricht, dass man sich auf Perm wiedersehen wird.

Doch schon bei der Landung auf dem Mond läuft einiges schief und das Raumschiff mit der Familie stürzt ab. Mehr oder minder unversehrt gelangt Henry mit seiner Familie nach Lyneham, in das Biom, was nach seinem Heimatort auf der Erde benannt wurde, was fortan seine Heimat sein wird. Doch Perm ist nicht nur lebensfeindlicher als angenommen, die Tiere sind alle unsichtbar und eine Anomalie bedroht die Existenz der Bewohnenden – auch ein Wiedersehen mit Henrys Mutter scheint immer unwahrscheinlicher, je mehr Zeit vergeht und je mehr sie über die neue Welt und Noah Rayser, Vertreter der obengenannten Firma, erfahren. Jedoch mehren sich die Anzeichen dafür, dass Mutter Mildred bereits auf Perm war. Denn ihr Flug, der eigentlich später startete, hat so von technologischen Fortschritten profitiert, dass er trotz späteren Abflugs wesentlich früher als die anderen Schiffe auf dem Mond ankam, um Perm durch Geoengineering habitabel zu machen. Selbst nicht anwesend, hat sie eine Botschaft hinterlassen – eine Warnung, die aus der Vergangenheit kommt und das Leben der Familie vor unerwartete Herausforderungen stellt.

Tiefsinnige und vielschichtige Science Fiction

In Lyneham tauchen wir aus zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven in die Handlung ein: Der größere Teil ist aus der Sicht des 12-jährigen Henry verfasst, dem die Perspektive seiner Mutter Mildred ergänzend gegenübergestellt wird. Dabei versteht Autor Nils Westerboer wunderbar, die kindliche Sicht von Henry mit der analytischen Perspektive der Mutter harmonisch zu kombinieren. Beide Erzählstränge sind auf ihre eigene Art fesselnd und auch tiefgründig, trotz einer gewissen kindlichen Naivität, wobei Mildreds Storyline mehr Auskunft über die größere Handlungsebene bereithält.

Gerade Henrys Blickwinkel vermittelt die Begebenheiten des Lebens auf Perm ganz nebenbei aus der Alltagsschilderung eines Kindes heraus, was erzählerlisch nicht nur eindrucksvoll umgesetzt ist, sondern auch eine überraschende Tiefe bereithält wie auch das großartige Worldbuilding massiv bereichert. Diese "ruhige" Erzählweise wirkt dadurch lebendig und detailreich, vermittelt Spannung, ohne Hast, während Mildreds wissenschaftlich geprägte Kapitel einen aufschlussreichen Blick auf die Dinge hinter den Kulissen von Perm werfen lassen.

Die Kombination aus beiden Blickwinkeln lässt die Welt äußerst real und greifbar erscheinen, sie zieht den Lesenden mühelos in den Bann. Die karthographischen Hilfen im Buchdeckel, die ich leider viel zu spät erst entdeckt habe, unterstützen die Immersion zur Welt von Perm und Lyneham und bieten gleichzeitig eine praktikable Ergänzung der Welt im Kopf.

Zwischen den Zeilen und die Kunst des Mitdenkens

Die ethischen Debatten rund um das Terraforming von Perm und die moralischen Fragen, die sich daraus ergeben, ob man fremde Flora und Fauna einfach auslöschen darf zum Wohl der Menschen, sind mal mehr, meist jedoch weniger offensichtlich, damit umso geschickter in die Handlung eingeflochten. Themen wie Gemeinschaft und Identität wie auch die Bedeutung von Familie werden ebenso aufgegriffen, wobei gerade Henrys jüngere Schwester Loy mit ihrem kindlichen, dennoch scharfsinnigem Moralkompass am meisten hervorsticht. "Wir und die anderen" ist ein sich durch den Roman ziehender Strang, der zugleich Ursache und Lösung von allem sein kann.

So "leichtfertig" das Buch zu lesen klingen mag, da es aus der Sicht eines Kindes verfasst ist, ist es nicht dazu ausgelegt, passiv nur durchs Lesen verfolgt zu werden. Man ist darauf angewiesen, mitzudenken. Man muss eigenständig Verbindungen knüpfen, zwischen den Zeilen lesen und Schlüsse ziehen, was sowohl für den Subtext wie auch die Handlung essentiell ist. Ich persönlich empfand diese Art der Erzählweise nicht nur als (positiv) aufmerksamkeitsfordernd und sehr angenehm. Auch wenn es gelegentlich notwendig war, dass ich eine vermeintlich bedeutungsärmere Passage noch einmal lesen musste, da ich etwas zu schnell beim Lesen fortgeschritten bin.

Über den Abschluss eines Romans schreibe ich recht ungerne in einer Rezension. Aber dieser Schluss kommt recht unerwartet daher und unterscheidet sich deutlich im Vibe vom Rest der Geschichte. Er ist überraschend und bringt eine gewisse Andersartigkeit mit sich, mit der man nicht rechnen würde und bricht sogesehen mit den Erwartungen des Lesenden. Mit ein bisschen mehr Abstand zum Buch erscheint es mir jedoch auf der Subebene durchaus als passendes Ende, auch wenn mir das Tempo und die sich überschlagenden Ereignisse im Vergleich zum restlichen Buch noch immer etwas zu rasant daherkommen.

Fazit

Lyneham entfaltet seine fesselnde Geschichte durch den geschickten Einsatz von zwei Perspektiven: die kindliche, aber dennoch detailreiche Sichtweise von Henry und die analytische Perspektive seiner Mutter. Dieser erzählerische Kniff verleiht der Handlung eine bemerkenswerte Tiefe und unterstützt das beeindruckende Worldbuilding, was insgesamt ein tiefes Eintauchen in diese faszinierende Welt ermöglicht.

Trotz der ruhigen Erzählweise bleibt der Roman ein Pageturner, der konstant Spannung aufrechterhält und viele Themen subtil wie gekonnt in die Handlung einflicht. Ethische und moralische Fragen, von Terraforming über "Wir versus die anderen" sind auf kluge Weise in die Handlung eingewoben und bieten eine zusätzliche Tiefe, fernab der Story.

Mit einem Hauch von Hard-Sci-Fi bietet Lyneham eine intelligent konstruierte und sorgfältig durchdachte Geschichte, die sowohl begeistert als auch herausfordert. Auch wenn das Ende überraschend und unerwartet daherkommt, mit bisherigen Erwartungen bricht, fügt es sich letztlich stimmig in das Gesamtkonzept ein. Ein sehr gelungener Sci-Fi-Roman, der im Gedächtnis bleibt.

Das Produkt wurde kostenlos für die Besprechung zur Verfügung gestellt.

Dieser Artikel ist erschienen bei: Zauberwelten-Online.de

Nadine Kaiser

Text

Nadine ist in der Science-Fiction-Literatur zu Hau...

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