Andreas Giesbert (Zauberwelten-Online): Lieber Swen, ich steige ganz unverfroren ein, indem ich dir – aufs Neue sage – wie sehr ich deine Spielbuchprojekte schätze. Auch durch deine Mitarbeit im Mantikore-Verlag und allgemein spielbegeisterten Menschen bist du die perfekte Wahl für einen Einblick in das Spielbuch Genre. Bevor wir dahin kommen: Stelle dich uns doch einmal vor, wer bist du und wie kamst du zur Phantastik?
Swen Harder: Ich bin im Odenwald, einer ländlichen Region am Dreiländereck von Hessen, Baden-Württemberg und Bayern geboren und lebe dort seit fast 50 Jahren. Nach Lehre und Abitur studierte ich Informatik und arbeitete dann als Redakteur für Computer- und Videospiele bei renommierten Verlagen in Würzburg und Nürnberg. Ich verfasste hunderte Artikel über Games aller Genres für viele Print- und Online-Magazine, ehe ich dann vor 13 Jahren als Gametester bei Nintendo anheuerte.
Zur Phantastik kam ich über Computerspiele auf meinem Atari 800 und letztendlich auch über meinen Freund Eberhard, mit dem ich viel Zeit in Rollenspiel-Welten wie Das schwarze Auge, Dark Sun oder Vampire verbrachte. Nicht zu vergessen unsere ewigen Titan-Schlachten (legendäres Strategie-Brettspiel) und Spielbuch-Marathons, in denen wir versuchten, möglichst ungeschoren ganze Serien, Band für Band, zu überleben.
Mehr zur Geschichte des Spielbuchs hat Spielbuchautor Jonathan Green aufgeschrieben
Andreas (ZWO): Springen wir gleich ins Thema: Spielbücher sind grob gesagt mit der Fighting Fantasy Reihe Anfang der 80er entstanden. Kannst du das etwas einordnen?
Swen: Spielbücher mit Rollenspielelementen gibt es seit den frühen 80er-Jahren. Die Gründer der englischen Firma Games Workshop Steve Jackson und Ian Livingstone suchten nach einer Möglichkeit, das populäre Dungeons & Dragons Rollenspiel-System einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Sie wollten die Regeln vereinfachen und zugleich den Spielleiter entbehrlich machen. So entstand 1982 mit Der Hexenmeister vom flammenden Berg („The Warlock of Firetop Mountain“) das erste Fighting Fantasy Werk.
Eine noch einfachere Variante des Spielbuchs – also ohne Spielregeln und nur mit Sprungmarken versehen – erschien bereits 1976. Mit Insel der 1000 Gefahren (im englischen Original: „Sugarcane Island“) brachte Edward Packard also eigentlich den Stein ins Rollen. Die daraus resultierende Reihe mit dem Namen Choose Your Own Adventure – CYOA gilt heute noch als Synonym für das Genre.
Swen gemeinsam mit Spielbuchlegende Sir Ian Livingston (Aufgenommen auf der Lucca Con 2023)
Der Erfolg der Spielbücher in den Anfangsjahren lag wohl darin begründet, dass das Konzept von interaktiver Unterhaltung vollkommen neu war für die Kids damals. Computer-Spiele steckten noch in den Kinderschuhen. Die ersten Heimcomputer kamen erst Mitte der 80er auf den Markt. Zudem waren sie in ihren Möglichkeiten sehr limitiert und kaum erschwinglich. Dann jedoch gelang Lucas Arts 1987 mit dem Point-and-Click-Adventure „Maniac Mansion“ der große Wurf. Und man kann sicher behaupten, dass die Verkaufszahlen von Games seitdem antiproportional zu denen der Spielbücher verliefen.
Andreas (ZWO): Sicherlich. Mit aktuellen Computerspielen lässt sich der Spielbuchmarkt nicht mehr vergleichen. Spielbücher sind längst nicht allen ein Begriff. Was ist denn jetzt überhaupt ein Spielbuch?
Swen: Vereinfacht gesagt, sind Spielbücher interaktive Romane. Also Geschichten, bei denen die Lesenden selbst entscheiden, wie der Protagonist handeln soll. Dies wird durch die Aufteilung der Geschichte in Abschnitten realisiert. Jeder Abschnitt ist mit einer Nummer von 1 bis X versehen (die meisten Spielbücher haben 300-400 davon, einige wenige auch über 1000).
Man beginnt bei 1 und am Ende eines jeden Abschnitts wird eine Frage oder Aufgabe gestellt. Je nach Entscheidung spielt man nun bei einem anderen Abschnitt weiter. Dies führt letztendlich dazu, dass man kreuz und quer durch das Buch springt und sich so eine vollkommen individualisierte Geschichte ergibt. Ein Spielbuch lässt sich also auch mehrmals spielen – es ergibt sich stets ein anderer Ablauf.
Spielbücher arbeiten mit Regeln und Charakterwerten. In Metal Heroes interpretiert Swen beides auf ganz eigene metallische Art
Neben diesem CYOA-Grundprinzip haben Spielbücher meist besondere Regeln, um das eigene Rollenspiel-Thema – sei es nun Fantasy, Science-Fiction oder ein anderes Genre – zu transportieren. Denn wie in Rollenspielen üblich wird gekämpft, gibt es Auseinandersetzungen oder sonstige Gefahren, die dem Helden oder der Heldin nach dem Leben trachten. Also wie wird gekämpft? Wie wird Schaden und Lebensenergie errechnet? Welche besonderen Fähigkeiten und Talente hast du? Je nach Anspruch und Ambition der Autor*innen können solche Regelwerke leider abschreckende Ausmaße annehmen.
Andreas (ZWO): Nach Fighting Fantasy ist einiges passiert. Wie würdest du die Entwicklung der nächsten Dekaden beschreiben? Was waren Highlights und Innovationen?
Swen: Da die erfolgreichsten Spielbücher eine Auflage von 100.000 Stück und mehr verkauften, waren die Verlage entsprechend erpicht darauf, Neuheiten an den Start zu bringen. Neben COYA und Fighting Fantasy erschien ab 1984 mit Einsamer Wolf („Lone Wolf“) von Joe Dever wohl die bekannteste zusammenhängende, 32 Bände umfassende, Spielbuch-Geschichte. Die Serie war übrigens auch mein Einstieg ins Spielbuch-Genre und die Welt des Rollenspiels im Allgemeinen.
Innovativ war seinerzeit auch die Fabled Lands-Reihe. Sie besteht ebenfalls aus mehreren Bänden. Hier ist allerdings der Clou, dass jeder Band eine Region der Welt behandelt und man darin kurze Abenteuer erlebt, um dann irgendwann an die Landesgrenzen zu reisen und von dort in einen anderen Band weiterzuspielen. Sie werden also nicht chronologisch gelesen, sondern je nach Reiseroute kreuz und quer.
Heute finden sich Spielbuchelemente auch in anderen Medien und Spielkonzepten. Beispielsweise in Brettspielen, wie Gloomhaven oder Robin Hood. Diese Titel würde ich aber nicht als innovativ bezeichnen, sondern eher als eine natürliche Entwicklung einstufen.
Mit Reiter der schwarzen Sonne hat Swen Harder eines der umfangreichsten und innovativsten Spielbücher vorgelegt
Andreas (ZWO): Als ich Spielbücher vor etwa 20 Jahren – übrigens genauso wie du – mit dem einsamen Wolf kennengelernt habe, war ich ganz im Bann. Das Hobby war aber doch eher randständig. Mit dem Mantikore Verlag wurden Spielbücher in Deutschland wieder größer, oder? Kann man sagen, dass damit ein gewisses Revival eingetreten ist?
Swen: Ja, Spielbücher finden seit rund 10 Jahren wieder statt. Wenn man so will, kann man dies als Revival bezeichnen. Jedoch reden wir hier nicht von 6-stelligen Verkaufszahlen, wie noch in den 80ern, sondern wir bewegen uns eher im 4-stelligen Bereich.
Natürlich werden die meisten Spielbücher heute eher für ein erwachsenes Publikum geschrieben. Zielgruppe sind eindeutig die Leser*innen von damals.
Mit Reiter der schwarzen Sonne und Metal Heroes and the Fate of Rock hatte ich genau das im Blick. Insbesondere mit Metal Heroes sollten definitiv keine Kinder angesprochen werden. Wobei mir immer wieder von Eltern zugetragen wird, wie viel Freude ihr Nachwuchs mit meinen Büchern hat.
Metal Heroes ist ganz Swens Liebe zum Metal gewidmet und dabei weit mehr als nur eine Hommage
Andreas (ZWO): Ich mache es dir sicher nicht einfach, aber welches Spielbuch hat dich persönlich begeistert und warum?
Swen : Einsamer Wolf 2 hat mich damals als Kind besonders begeistert, da es neben den klassischen Text-Entscheidungen auch ein Bilderrätsel bot. Am meisten Spaß hatte ich allerdings mit Die Saga von Bruder John. Diese Mini-Serie war weder innovativ noch herausragend spannend, aber für damalige Verhältnisse sehr umfangreich und kleinteilig in ihrem Storytelling. Mir gefiel das wahrscheinlich deshalb so gut, da es unserem damaligen Pen-and-Paper-Spielstil entsprach.
Andreas (ZWO): Mit dem Reiter der schwarzen Sonne hast du damals nicht nur das bis dato umfangreichste Spielbuch geschrieben, sondern auch viele Innovationen ausprobiert. Wie weit konntest du dabei auch aus deiner Erfahrung in der Gaming Industrie zehren?
Swen: Nun, beim Entwickeln eines komplexen Spielbuchs stellt sich irgendwann natürlich die Frage, wie man die Lesenden in die Geschichte einführt und die Regeln vermittelt. Mich persönlich hat es stets genervt, dass man erst einmal 10 bis 30 Seiten Regeln wälzen muss, um überhaupt die erste Sektion lesen zu dürfen. Ich verfolgte den Ansatz des Tutorials, also der schrittweisen Einführung von Regeln während des Spiels. Lernen durch Anwendung, wenn man so will. Da haben mir meine Erfahrungen als Games-Redakteur- und -Tester sicher geholfen.
Beeindruckende Tuschezeichnung zum Reiter der schwarzen Sonne
Andreas (ZWO): Mit Metal Heroes hast du dann noch ein paar weitere Experimente gewagt. Hier begleiten wir ganze vier Charaktere und das Spiel kommt sogar ohne Kämpfe aus. Als ob das nicht genug wäre, hast du dann auch noch eine CD zum Spiel beigelegt. Eine ziemliche Leistung. Was waren denn die besonderen Herausforderungen hier und was ist deines Erachtens besonders gut geglückt?
Swen: Der Soundtrack war in Sachen Planung und Umsetzung tatsächlich eine echte Herausforderung. Es gab rechtliche Fallstricke (GEMA) mit der Idee, nur Newcomer-Bands auf die Scheibe zu bringen. Das Projekt war schon fast gescheitert, bis ich es endlich schaffte, Napalm-Records, ein Label aus Österreich, zu überzeugen, das Projekt mit ihren Bands zu unterstützen.
Eine harte Nuss war das Regelwerk mit seinen abgestuften Schwierigkeitsgraden. Ich wollte das Buch möglichst einem breiten Publikum zugänglich machen. Ein Spielbuch-Anfänger sollte damit ebenso Spaß haben können wie eine Regel-Fetischistin. Ich kann mich noch gut erinnern, als mir die Idee zur Lösung des letzten Regel-Problems in den Sinn kam und mir bewusst wurde, wie natürlich sich letztendlich alles zusammenfügt. Ein echter Entwickler-Heureka-Moment.
Andreas (ZWO): In beiden Projekten hast du mit FuFu Frauenwahl zusammengearbeitet. Wie muss man sich die Zusammenarbeit vorstellen?
Swen: Ich arbeite gern mit FuFu zusammen. Er ist nicht nur ein talentierter Künstler, sondern auch professionell, ehrlich und kritikfähig. Und auf solch einer Basis lässt sich eben besonders produktiv sein. Während eines Projekts sind wir in unregelmäßigem aber stetigem Austausch. Ich gebe ihm meistens Anweisungen, wie ich mir bestimmte Illustrationen vorstelle. Mal mehr, mal weniger detailliert. Dabei lasse ich ihm oft künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten. So bei Metal Heroes, bei dem er die Charaktere in vielen Details selbst gestalten konnte. Nicht weil ich faul war, sondern weil ich wusste, dass er als Comiczeichner hier in seinem Element ist.
Vom Entwurf zum finalen Bild
Andreas (ZWO): In der letzten Zeit hast du ein Escape Game geschrieben. Woran arbeitest du gerade und ist auch ein Spielbuch in Arbeit?
Swen: Stimmt. Eigentlich habe ich mit Der Schatz der Freibeuter, Das geheimnisvolle Amulett und Der unsichtbare Gegner sogar drei Titel für die LandXcape-Reihe geschrieben, die ich auch selbst entwickelt habe. Das hat wirklich Spaß gemacht, da auch hier Spielbuch-Elemente zum Tragen kommen. Doch jetzt fokussiere ich mich wieder auf mein ewiges Projekt Onihatsugo, ein Spielbuch im feudalen Japan. Natürlich wieder mit Fantasy-Einschlag und frischen Ideen.
Andreas (ZWO): Da können wir sehr gespannt sein! Weiterhin viel Freude bei der Arbeit am Projekt. Auf dass du das ebenfalls mit einem Entwickler-Heureka Effekt abschließen kannst!
Alle Genretalks im Überblick