Der König in Gelb – Ein Drama
Es begann wie ein gewöhnlicher Theaterabend. Der Vorhang hob sich, die Bühne tauchte in ein unheimliches Licht. „Der König in Gelb“ – ein Titel, der mir seltsam vertraut erschien. Mit jeder Zeile, jedem Schritt der Schauspielenden schien das Stück direkt zu mir zu sprechen. Bald war ich nicht mehr Zuschauer, sondern Teil der Inszenierung. Die Masken – oder waren es ihre Gesichter? – schienen mich zu berühren. Als der König in Gelb erschien, wurde klar: Es gab kein Entkommen. Nun halte ich ein Buch in der Hand. „Der König in Gelb: Ein Drama.“ Es erinnert an diesen Abend und ich frage mich: Wer hat es geschrieben?
Ursprung
Der König in Gelb: Ein Drama, herausgegeben von Levin Handschuh, ist kein gewöhnliches Buch und erst recht kein klassisches Drama, das eine lineare Handlung bietet. Vielmehr ist es ein offenes Kunstwerk, das die Leser*innen auf anspruchsvolle, mehrschichtige Weise fordert und sie einlädt, über das passive Lesen hinauszugehen. Es basiert auf dem verrückt machenden Theaterstück in Robert W. Chambers gleichnamiger Kurzgeschichtensammlung von 1895, das H. P. Lovecraft zu seinem Necronomicon inspiriert hat. Diese Veröffentlichung jedoch ist kein nacherfundenes Faksimile des Theaterstücks, sondern bietet interaktiven Tiefgang und richtet sich an Fans von Weird Fiction und Liebhaber*innen avantgardistischer Leseformen. Doch was macht dieses Buch wirklich aus? Es sind die Erfahrungen, die es in den Leser*innen entfaltet, und die Impulse, die weit über die letzte Seite hinausreichen.
Intertextuell, intermedial und interaktiv
Schon das Durchblättern überrascht: Das Buch bietet eine Collage aus unterschiedlichsten Materialien – handschriftlichen Notizen, Korrespondenzen zwischen Theaterregisseur und Mitwirkenden, Fotografien, Musiknoten, Bühnenentwürfen, Maskenbauanleitungen, Skizzen, KI-generierten Bildern und kunstvollen Illustrationen. Dieser Zugang verleiht dem Buch die Wirkung eines verschlüsselten Manuskripts oder gar eines mystischen Artefakts, das entdeckt und entschlüsselt werden will. Die altertümliche Sprache des Dramentextes, die an Werke der deutschen Klassik erinnert, steht dabei in reizvollem Kontrast zu modernen Anmerkungen und E-Mails, die immer wieder die Leseweise wechseln lassen und damit auch eine besondere Spannung erzeugen. Das Werk spielt gezielt mit dem ästhetischen Herausreißen aus dem Lesefluss, was den Eindruck verstärkt, man sei tatsächlich auf Spurensuche – wie jemand, der sich zwischen Realität und Fiktion bewegt.
Besonders tiefgreifend habe ich die die Meditationsanleitung empfunden, die das Buch enthält und die mich besonders berührt hat. Durch meine früheren Erfahrungen mit unterschiedlichen Meditationen war ich neugierig von der Art und Weise, wie diese genuine Anleitung einen stufenweise in eine unheimliche, unbekannte Welt führt – ein Erlebnis, das zu den zentralen Themen von Chambers passt. Die Meditation ermöglicht es, sich auf eine fast körperliche Weise in die mentalen Abgründe der Protagonisten und die unkontrollierbare Macht des Königs hineinzuversetzen. Anders als die anderen Fragmente des Textes wird die Meditation nicht durch Erzählung oder Dialog vermittelt, sondern durch eine direkte und immersive Auseinandersetzung, die den Lesenden zwingt, sich den verworrenen Gedanken und Visionen hinzugeben. Handschuhs Herangehensweise stellt eine innovative Erweiterung des Mythos dar, indem sie die Leserschaft in einen Zustand versetzt, der über eine thematische Darstellung des Wahnsinns hinausgeht und diesen körperlich nachfühlbar macht. Der Gedanke, dass hier etwas erschaffen wurde, das mehr ist als ein literarisches Gimmick, verleiht der Lektüre eine neue, beinahe beunruhigende Dimension. Während der Meditation entsteht ein beklemmendes Gefühl, als würde man eine verborgene Schwelle betreten. Man wird sich plötzlich dessen bewusst, dass diese Anleitung gezielt und mit großem Feingefühl entwickelt wurde, um eine Unruhe auszulösen, die noch lange nachhallt. Beim Verfassen dieser Zeilen horche ich ab und zu in mich hinein und suche nach dem sonderbaren Ton, den ich entdeckt habe.
Die intertextuellen Verweise und Allusionen an Werke von Poe, Crowley, Jung und viele andere eröffnen eine Vielzahl von Interpretationsansätzen, die das Buch wie ein Prisma wirken lassen, in dem jede*r Leser*in andere Farben erkennen wird. Der Text schöpft gekonnt aus dem reichen Fundus des Unheimlichen: Lovecrafts Cthulhu-Mythos schimmert ebenso durch wie Bierce' düstere Phantastik und Crowleys okkulten Leitsatz über den wahren Willen, der auch in der Unendlichen Geschichte zu finden ist. Besonders gelungen ist die Transformation des maskierten Königs in Gelb, der als kunstvolle Reminiszenz an Poes The Masque of the Red Death erscheint. In der Verwendung der Tarotkarten als metaphysische Landkarte des Bewusstseins offenbart sich eine tiefenpsychologische Dimension, die stark an Jungs Archetypenlehre erinnert. Die visuellen Elemente hingegen - möglicherweise Anspielungen auf spezifische Bühnenwerke - entziehen sich aufgrund fehlender Vertrautheit mit aktuellen Theaterproduktionen einer abschließenden Deutung. Es ist dabei kein einfaches „Abenteuerspielbuch“ oder eine Nacherzählung, sondern ein anspruchsvolles, interaktives Erlebnis, das sich mit dem eigenen Erfahrungsschatz verbindet. Man wird herausgefordert, eine eigene Haltung zu entwickeln, in die literarischen und visuellen Elemente tiefer einzutauchen und mit der eigenen inneren Welt abzugleichen. So wird auf Seite 68 ein „Denkmal an den Konstrukteur“ erwähnt, für mich persönlich eine Anspielung auf den von mir geschätzten Faust II von Goethe, in dem ein Damm errichtet wird. Seite 40 zeigt den maskierten Fremden, eine klare Referenz zu Edgar Allan Poes The Masque of the Red Death, der dem Thema des Wahnsinns und Verfalls in grotesker Form nachgeht. Die Stadt „City of R“ ist eine der zugänglicheren Referenzen auf H.P. Lovecrafts R’lyeh, womit das Werk in die kosmische Horrortradition eingebettet wird. All diese Verweise verstärken das Gefühl, dass das Werk als „gefundenes“ Dokument verstanden werden kann, das über Zeiten und literarische Gattungen hinweg zerrissen und wieder zusammengesetzt wurde. Diese Zitate und Anspielungen, die scheinbar willkürlich auftauchen und verstreut sind, laden den Leser zu einer intellektuellen Spurensuche ein, die das Gefühl der Fragmentation noch verstärkt.
Ein Wort zur Vorsicht
Es ist dadurch primär an die Kenner der Werke gerichtet, wird aber im breiteren Fandom von Horrorgeschichten eine Freude sein, sei es Fans von Cliff Barker oder anderen, die noch nicht in Berührung gekommen sind mit den Ursprungswerken von Chambers. Literaturenthusiasten, die die italienische und französische Avantgarde des letzten Jahrhunderts gerne gelesen haben, beim Betrachten und Rezitieren von Dadaismus den Effekt der Sprache gespürt haben, werden hier ebenso zufrieden werden wie Menschen, die gerne nach der Literatur außerhalb von Schema F suchen und dabei gerne in die mysteriöse, weirde und gruselige Richtung gehen. Freunde von Außergewöhnlich-Düsterem, wie unter anderem Gothics, werden in dem Werk angesprochen.
Ob Chambers-Expert*in oder nicht, alle müssen sich mit Dem König in Gelb aktiv auseinandersetzen, ansonsten bleibt es eine kurze, unbefriedigende Begegnung. Alle anderen werden die Arbeit des Teams und das Potenzial dieses Buchs schätzen und sich möglicherweise modernen Theaterstücken und auf Performanz ausgerichteten Kunstprojekten öffnen.
Das Werk fordert den / die Leser*in nicht nur durch seine Struktur heraus, sondern auch durch seine performative Qualität. Die Rahmengeschichte, dass das Buch als „gefundenes“ Regiebuch präsentiert wird, unterstützt die Idee, dass die Rezeption nicht in einer statischen Lektüre endet, sondern im Lesen und Verstehen eine eigene „Aufführung“ erfährt. Dieses performative Element wird durch die Einflechtung von Theaterinszenierungen, Bühnenbildern und Musikstücken unterstrichen, die den Text als Regiebuch und weniger als abgeschlossenes Drama erscheinen lassen. Es erinnert an Umberto Ecos Konzept des „offenen Kunstwerks“ und überträgt die Verantwortung für die Vollendung des Werkes auf die Leserinnen und Leser. Roland Barthes’ „Tod des Autors“ wird hier auf "weirde" Weise umgesetzt, indem der Text durch die Leserschaft vervollständigt wird und nicht durch den oder die Autor*in selbst.
Fazit:
Zusammengefasst ist Der König in Gelb: Ein Drama ein tiefgreifendes literarisches Experiment, das die Grenzen zwischen Text, Medium und Rezeption verschiebt. Durch die fragmentierte Struktur, die Meditationen, die intertextuellen Verweise und die performative Dimension fordert das Werk seine Lesenden zu einem aktiven, kreativen und intellektuell herausfordernden Leseprozess heraus. Die multimedialen Einsprengsel und die Fragmentation verstärken das Thema des Wahnsinns und machen die Lektüre zu einer Art Versuchsanordnung, bei der der Lesende selbst zum Mit-Autor wird und das Werk im Lesen vollendet. Handschuhs „Der König in Gelb“ ist weniger ein Buch, das gelesen werden soll, als vielmehr ein Erlebnis, das seine Leserschaft auf eine ganz neue, beinahe körperliche Weise in die Welt des „Königs in Gelb“ eintauchen lässt.
Die Lektüre dieses Buches stellt eine Herausforderung dar – aber eine, die sich lohnt. Gerade für Literaturkenner*innen, die avantgardistische Werke und ungewöhnliche Formen des Theaters schätzen, bietet es eine Möglichkeit, jenseits des gewöhnlichen Literatur zu erleben. Selbst wenn das Buch längst zurück ins Regal gestellt wurde, bleibt sein Nachhall spürbar, und man findet sich dabei, die rätselhaften Verbindungen und Ideen immer wieder im Alltag zu reflektieren.
Levin Handschuh und sein Team haben hier ein außergewöhnliches Werk geschaffen, das nicht nur Chambers’ Mythos würdigt, sondern ihn auf eine neue, mutige Weise zum Leben erweckt. Der König in Gelb: Ein Drama ist kein Buch, das gelesen und dann vergessen wird. Es ist ein „gefährliches“ Buch, das die Leser*innen verändert und sie mit seiner Unruhe, Unsicherheit und Faszination zurücklässt. Und gerade in dieser fordernden Erfahrung liegt seine wahre Größe.
Und nun, da ich das Buch beiseitelege, spüre ich, dass ich nicht nur gelesen habe – ich wurde Teil eines größeren Spiels. „Der König in Gelb: Ein Drama“ ist mehr als Literatur, mehr als Theater. Es fordert, verändert und hinterlässt Spuren, die bleiben. Doch die Frage, die mich nicht loslässt, ist dieselbe wie damals im Theater: War es wirklich ein Mensch, der das geschrieben hat? Oder hat etwas Größeres, Unergründliches durch dieses Werk gesprochen? Vielleicht gibt es darauf keine Antwort – und vielleicht ist das genau, worauf es ankommt.
Das Produkt wurde kostenlos für die Besprechung zur Verfügung gestellt.
Dieser Artikel ist erschienen bei: Zauberwelten-Online.de
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Kommentare
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