Ann A. Kalliope (Zauberwelten-Online): Lieber Bernhard, ich freue mich, dass wir heute miteinander sprechen. Bevor wir anfangen über das Genre Mythen und Märchen zu reden, wäre es schön, wenn du dich kurz vorstellen könntest. Wie hast du den Weg zur Schriftstellerei allgemein und im Speziellen zu den Mythen und Märchen gefunden?
Bernhard Stäber: Liebe Ann A. Kalliope, vielen Dank für deine Interviewanfrage! Den Berufswunsch Schriftsteller hatte ich bereits früh in meinem Leben. Ich las schon als Kind sehr viel, nachdem ich es mir aus Neugier noch während meiner Zeit im Kindergarten selbst beigebracht hatte. Dabei stieß ich auf die Bücher von Otfried Preußler, und wenn ich in der Grundschule gefragt wurde, was ich mal werden wolle, dann sagte ich: „Lehrer und Bücher schreiben, so wie der Preußler.“ Lehrer bin ich zwar nicht geworden, weil mir die Schule mit dem Eintritt ins Gymnasium ziemlich verleidet wurde, dafür aber Sozialpädagoge in der Familienhilfe und im sozialpsychiatrischen Bereich. Ich schrieb meinen ersten Roman während des Studiums und dann weitere Bücher nebenbei zu meinem Hauptberuf, bis ich mich schließlich 2012 mit meinem Umzug nach Norwegen dazu entschloss, ganz vom Schreiben, Übersetzen und von Lektoratsarbeiten zu leben.
Zu Märchen und Mythen kam ich über Grimms Hausmärchen und dicke Sammelbände der griechischen und nordischen Sagen, die ich als Kind geschenkt bekam und verschlang. Ganz besonders aber liebte ich eine zweibändige Ausgabe von Lisa Tetzners Klassiker Das Märchenjahr – Märchen der Welt für 365 und einen Tag. Jedes dieser Märchen war aus einem anderen Land, und ich bekam auf diese Weise schon früh in meinem Leben mit, dass Märchen mehr sind als nur die altbekannten Geschichten von Hänsel und Gretel, dass jedes Land auf dieser Welt seine ganz eigene Märchentradition besitzt.
Ann A. (ZWO): Märchen strahlen also weltweit eine Faszination auf uns Menschen aus und jede*r entwickelt eine ganz eigene Beziehung zu diesen speziellen Geschichten. Was genau begeistert dich denn an Mythen und Märchen so besonders?
Bernhard: Ich mag an Mythen und Märchen, dass sie zu den ältesten und daher ursprünglichsten Formen des Geschichtenerzählens gehören. Ich finde es sehr spannend, wie sie über die Jahrhunderte und teilweise Jahrtausende hinweg ihr Publikum erreichen, auch in der heutigen Zeit, weil sie Themen ansprechen, die Menschen immer beschäftigt haben: die Natur der menschlichen Existenz, Liebe, Gut und Böse, die eigene Sterblichkeit und so weiter. Das sind Themen, die einfach zeitlos sind und niemals an Aktualität verlieren.
Ann A. (ZWO): Für viele von uns sind im alltäglichen Sprachgebrauch die Begriffe Mythen, Märchen, Sagen irgendwie dasselbe und wir benutzen sie als Synonym. Aber es gibt Unterschiede. Kannst du diese einmal ganz einfach erläutern?
Bernhard: Die Unterteilung ist ein komplexes Feld, nur ganz holzschnittartig hier an dieser Stelle: Sagen stehen mit konkreten Orten oder quasihistorischen Persönlichkeiten in Verbindung, Mythen beschäftigen sich mit essentiellen Themen wie Vorstellungen zur Erschaffung der Welt und der Rolle der Menschen darin, während Märchen mit ihrem für gewöhnlich guten Ende auf einer psychologischen Ebene eine befriedigende Geschichte erzählen, indem sie den Sieg des Guten oder moralisch Richtigen über widrige und oft entsetzliche Umstände postulieren.
Ann A. (ZWO): Du schreibst unter zwei Namen, deinem Klarnamen und deinem Pseudonym Robin Gates, sowohl Urban-Fantasy als auch Thriller. Wie passen da Mythen, Märchen und Sagen hinein?
Bernhard: Das stimmt nicht ganz: ja, ich schrieb in der Vergangenheit Fantastik als Robin Gates und Spannungsliteratur, also Thriller, unter meinem Klarnamen. Inzwischen habe ich mein Pseudonym aber abgelegt und veröffentliche alles als Bernhard Stäber, weil ich festgestellt habe, dass diejenigen, die meine Bücher mögen, weniger aufs Genre achten, sondern konkret die Geschichten lesen wollen, die ich zu erzählen habe. Mein aktueller Fantasyroman Wächter der Weltenschlange, der in zwei Bänden in der Edition Roter Drache erschienen ist, kam daher auch unter meinem Klarnamen heraus.
Ann A. (ZWO): Und Mythen-, Märchen- und Sagenmotive sind dabei offenbar auch genreübergreifend anwendbar. Kann man sagen, dass sie sich generell als gute Basis für eine Geschichte eignen oder zumindest eine gute Möglichkeit sind, um der eigenen Geschichte noch eine andere Tiefe zu geben?
Bernhard: Mythen, Märchen und Sagen eignen sich aus verschiedenen Gründen für die Geschichten, die ich gerne erzählen will. Sie handeln sehr oft von starken Konflikten und Urängsten. Die Figuren in ihnen werden in teilweise fürchterliche Situationen geworfen, in denen sich dann entscheidet, ob und wie sie an ihnen wachsen oder ob sie scheitern. In diesen alten Geschichten wird immer wieder die Frage ausgelotet, was es bedeutet, menschlich zu sein und zu handeln. Ich mag es sehr, in meinen eigenen Erzählungen an diese starken inneren Bilder anzuknüpfen. Die Verbindung zu diesen Motiven funktioniert auch in Genres wie Krimis, die selbst kein fantastisches Element beinhalten.
Ann A. (ZWO): Diese starken, inneren Bilder, die du ansprichst, entwickeln durch einfache Sprache, Verwendung von Archetypen und den simplen Aufbau eine bildliche Kraft, die es bei näherer Betrachtung psychologisch ganz schön in sich hat und dabei zugleich hängenbleibt. Versuchst du diesen Effekt in deinen Geschichten ebenfalls mit zu nutzen?
Bernhard: Ja, man kann sich die bildliche Kraft von Märchen und Mythen als Autor zunutze machen. Tolkiens Mittelerde zum Beispiel atmet eine Tiefe, die nicht unbedingt nur von seiner Größe an Worldbuilding herrührt, sondern daher, dass er immer wieder Motive der nordischen und angelsächsischen Kultur und Mythologie darin einbaut. Wenn Figuren wie Aragorn den Mund aufmachen, dann sagen sie oft Sätze, die wie Sinnsprüche aus dem nordischen Havamal klingen. Wir lesen Der Herr der Ringe, und wir lesen etwas, dessen Stil und Ethos jahrundertealt sind. Ich glaube, ich habe diesen Effekt in meinem aktuellen Roman Wächter der Weltenschlange eingesetzt, ohne dass es mir beim Schreiben als bewusste Technik tatsächlich auffiel. Erst bei der Überarbeitung der Kapitel, die in der Wikingerzeit spielen, weil eine meiner Hauptfiguren durch die Zeit reist, fiel mir auf, dass ich die Figuren aus der Vergangenheit unabhängig von Alltagssprache oft auch in diesem Havamal-Stil reden lasse. Es macht sie authentischer, wenn sie sich in der einfachen, klaren Sprache ausdrücken, die direkt aus den Geschichten dieser Zeit überliefert ist.
Ann A. (ZWO): Wahrscheinlich kennt jede*r die Märchen von Rotkäppchen, Schneewittchen und Co. Die Hausmärchen der Gebrüder Grimm sind für uns die „klassischen Märchen", so wie die Mythen von Herkules oder Odysseus die „griechischen Klassiker“ darstellen. Gibt es deiner Meinung nach einen Mythen-, Märchen- und Sagenkreis, den man als Schriftsteller*in noch unbedingt kennen sollte?
Bernhard: Ich weiß nicht, ob ich mit meinem Eindruck richtig liege, aber ich habe manchmal das Gefühl, dass viele deutschsprachige Leser*innen immer noch mehr in griechischer Mythologie und den Themen der Klassik bewandert sind als in der nordischen Mythologie. Dabei sind die nordischen Mythen und gerade auch die Sagas ein wirklich spannendes Kulturgut, das ich erst seit meinem Umzug nach Norwegen so richtig zu entdecken beginne.
Ann A. (ZWO): Mythen- und Märchenelemente tauchen zwar immer wieder in Fantasygeschichten auf, aber der direkte Bezug zu diesen Geschichtenformen oder aber neue, moderne Märchen sind im Allgemeinen eher selten. Kennst du andere Autorinnen und Autoren, die sich stark auf Mythen- und Märchenmotive beziehen? Ist das vielleicht sogar ein noch unentdeckter Trend oder fristet diese Form der Fantasy eher dauerhaft ein Nischendasein?
Bernhard: Es gibt international bekannte AutorInnen wie Theodora Goss oder Terri Windling, die sich immer wieder auch dem Thema Märchen widmen, in Deutschland sind es zum Beispiel Christian Handel oder Fabienne Siegmund. Manche sammeln Märchen aus aller Welt und analysieren ihre Motive. Die meisten aber interpretieren sie neu. Sie schlagen damit eine Brücke zwischen uralten Erzählungen und der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die nach völlig anderen Regeln funktioniert, aber immer noch nach märchenhaften Geschichten verlangt, weil diese tiefe Bedürfnisse befriedigen, zum Beispiel den guten Ausgang eines langen Abenteuers voller Gefahren. Märchen haben zwar eher ein Nischendasein, weil sie mehr mit Literatur für Kinder als für Erwachsene in Verbindung gebracht werden, sie kommen aber auch immer wieder aus ihrem Nischendasein heraus – zum Beispiel wurde vor ein paar Jahren die TV-Serie Once Upon A Time, die Märchenfiguren in der Gegenwart neu interpretierte, ein internationaler Erfolg.
Ann A. (ZWO): Bevor wir gleich zum Schluss kommen, nochmal eine ganz andere Frage: Gibt es eine Figur aus deinen eigenen oder anderen Geschichten, der oder die du selbst gerne für eine gewisse Zeit wärst? Und wenn ja, warum gerade dieser Charakter?
Bernhard: In meinem ersten Fantasyroman Der Harfner und der Geschichtenerzähler, den ich noch unter dem Namen Robin Gates schrieb, gab es die im Titel erwähnten Hauptfiguren. Beide, sowohl der Harfner Margon, der sich im Laufe der Handlung mehr und mehr für Magie begeistert, als auch Callis, der reisende Geschichtenerzähler, sind Figuren, die ich gerne für eine Weile wäre. Ich fände es schön, nach all den Jahren die Welt von Runland noch einmal durch ihre Augen zu erkunden.
Ann A. (ZWO): Zum Abschluss interessiert uns noch, was bei dir aktuell und für die nahe Zukunft geplant ist.
Bernhard: Ich schreibe gerade an einem weiteren Norwegenthriller mit dem Arbeitstitel Camera Obscura, der auch wieder ein mystisches Thema streift. Der Roman wird voraussichtlich im Herbst 2022 erscheinen. Danach ist wieder ein Fantastikprojekt geplant, zu dem ich allerdings momentan noch nichts verraten darf.
Ann A. (ZWO): Dann bleiben wir gespannt. Herzlichen Dank für den Talk!
Bernhard: Vielen Dank für dein Interesse an meinen Gedanken zu Mythen und Märchen!
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