The Gaia Complex stellt vier Schlagwörter in seinen Mittelpunkt: Gewalt, Not und Mangel (Hardship), Verschwörung und Entdeckung. Damit ist noch nicht allzu viel über das Setting gesagt, als die meisten Cyberpunkwelten mit diesen Schlagwörtern beschrieben werden können. Und in der Tat: Zuerst einmal tut man gut daran, die Welt des Gaia-Komplexes als eine generische Cyberpunkwelt zu verstehen. Das Spiel will Cyberpunk sein und ist es auch. Allerdings natürlich mit ein paar eigenen Noten.
Die Welt des Gaia-Komplexes kommt recht sauber und aufgeräumt daher.
Schön zu sehen sind die typisch dezenten Implantate.
New Europe
Zuerst wäre da der Schauplatz. Klassischerweise bespielen wir New Europe, einen gigantischen Stadtkomplex der große Teile Deutschlands, Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs sowie einzelne angrenzende Gebiete umfasst und weitgehend von den zehn anderen Metropolen getrennt ist. Schäden an der Atmosphäre erlauben es nämlich, nur noch mittels Atmosphörenfiltern zu überleben, welche die Luft der Metropolen atembar machen. So ist es quasi unmöglich geworden, zwischen den Komplexen zu reisen.
Zum zweiten wäre da der titelgebende Gaia-Komplex. Gaia ist in diesem Fall eine von Hansor Innovations entwickelte künstliche Intelligenz, die im Zuge von massiven Konflikten immer mehr Kontrolle übernehmen konnte. Mittlerweile – wir schreiben das Jahr 2119 – ist Gaia die faktische Herrscherin über New Europe und hat etwa alle Polizeitruppen durch Androiden ersetzt. Dadurch fällt die Macht der Konzerne geringer aus als in vergleichbaren Settings, diese spielen aber weiterhin eine große Rolle.
Berlin hat sich seine Streetfoodkultur offenkundig bewahrt.
Überhaupt finden wir neben den mächtigen Konzernen fast jedes liebgewonnene Klischee wieder. Wir spielen MERCs, freiberufliche Auftragssöldner*innen, die sich für keinen Run zu schade sind, dürfen mit dem matrixartigen Core einen Cyberspace besuchen und uns mit zahlreichen Cyberwareimplantaten ausrüsten. Auch dabei finden jedoch schon kleinere Verlagerungen statt. So ist die Cyberware etwa so selbstverständlich, dass sie wirklich (fast) jeder trägt, was die transhumanistischen Aspekte des Cyberpunkthemas konsequent unterstreicht und eine eigene Ästhetik erzeugt. Das beeinflusst auch das Hacking, da es über die omnipräsente Vercyberung möglich wird, fast jede Person zu hacken, was eine besonders angsteinflößende Perspektive ist.
Cyberpunk plus x
Der deutlichste Unterschied zu Welten wie etwa Cyberpunk RED stellen schließlich zwei nicht-menschliche Fraktionen dar, die um 2111 die blutigen Straßen betreten: Vampire und Ferals. Letztere sind dabei Menschen (zumindest weitgehend), die geistig mit Tieren verschmelzen können, aber auch darüber hinaus eine eigene Kultur und Geschichte haben.
Mit diesem nicht-menschlichen Element wird eine bekannte Komponente klassischer Cyberpunkliteratur neu interpretiert: Der Konflikt zwischen Mensch und Maschine, oder eben zwischen Mensch und Nicht-Mensch. So spielen pro-menschliche Bewegungen, die sich gegen KI, Androiden und eben auch Vampire oder Ferals richten, eine große Rolle.
Das Auftreten von Vampiren hat die Welt nachhaltig verändert.
Beide Fraktionen betreten etwas unvermittelt die Bildfläche und ihre Existenz wird nur sehr verschwommen erklärt, was Anlass für Gerüchte und besagte Wahrheitssuche ist. Während die Genese dieser Geschöpfe offen bleibt, sind sie ein perfektes Beispiel für den exzellenten Weltenbau des Spiels. Nicht nur das damit interessante Charakteroptionen (Ferals) und Bedrohungen (Vampire) eingeführt werden, auch gelingt es Autor Chris “Shep” Shepperson, die Reaktion von Gaia auf diese neuen Fraktionen plausibel darzustellen. So fanden etwa – weit vor der Spielzeit – Verhandlungen und Kompromisse mit den Vampiren statt, die diese durch synthetisches Blut weitgehend gesellschaftsfähig gemacht haben. Auch wenn Vampire nicht als Charaktere spielbar sind, nehmen sie eine ambivalente Rolle ein, die sie zu mehr als bloßen Feinden macht. So entstanden etwa auch menschliche Vampirfans, die den vampirischen Lifestyle verehren oder etwa durch kybernetische Kiefer versuchen, sich dem Vampirideal anzunähern.
Style over Substance
Bekanntermaßen ist die Ästhetik für Cyberpunkwelten zentral. Und hier muss sich The Gaia Complex nicht verstecken. Das Artwork gefällt mir ausgezeichnet gut und macht Lust zum lesen und inspiriert zum Spielen. Es gelingt dem Spiel, eine eigene Ästhetik zu entwickeln die sich leicht aber spürbar von anderen Cyberpunkwelten abhebt. Neben den wirklich omnipräsenten Cyberimplantaten mit eigener Schnittstellenoptik wird eine leicht überzeichnete ultrafuturistische Ästhetik bedient, die sich deutlich moderner anfühlt als viele andere Cyberpunksettings. Trotz aller Retroelemente, die das Genre mit sich bringt, versucht The Gaia Complex nicht, die goldene Ära des Cyberpunks wiederzubeleben, sondern die dort entwickelten Ideen weiterzudenken. Und das ist meines Erachtens gelungen. Die Welt ist generisch genug um intuitiv bespielt zu werden, aber bietet durchdachte innovative Elemente, die sie unverwechselbar macht. Dazu kommen noch eine sehr gut strukturierte Präsentation und ein Schreibstil der mich – trotz einiger Tippfehler – fesseln konnte. Das Englisch ist allerdings für Nicht-Muttersprachler mitunter fordernd.
Auch Gendernormen werden selbstverständlich fluide.
Hinter dem Schleier
Wie schon das Thema Verschwörungen anzeigt, ist in New Europe ist nicht alles wie es scheint. Wie auch das ebenfalls von “Shep” mitentwickelte SLA Industries, gibt es eine “Truth”, die die wahre Geschichte beschreibt. Dieses Kapitel präsentiert eine faszinierende Geschichte über Hansor Innovations, welche die Entstehung von Gaia und auch das Auftreten der Vampire und Ferals erklärt. Die etwa 15 Seiten waren für mich äußerst spannend zu lesen und geben einige unerwartete Wendungen. Hier präsentiert uns “Shep” eine Geschichte, die uns fordert, und die Welt etwas tiefer macht. Allerdings ist fraglich inwieweit diese Ebene jemals das Spiel beeinflusst und hätte sie zum Auftreten der Vampire und Ferals noch ein paar Absätze mehr verraten können. Dennoch wird hier deutlich, wie viel Detailverliebtheit in dem Spiel steckt.
12.3 Die Regeln
The Gaia Complex kommt mit einem eigenen Regelwerk daher, das jedoch deutlich im Hintergrund steht. Das Spiel verfolgt einen narrativen Ansatz, weshalb auf verhältnismäßig wenige Würfelwürfe und simple Regeln gesetzt wurde.
Das seltsamste Element findet sich gleich in der Regelbezeichnung 12.3 wieder. Gaia Complex nutzt nämlich zwei zwölfseitige (W12) und viele dreiseitige Würfel (W3, meist nutzt man dazu sechsseitige Würfel, die man durch zwei teilt) für alle Proben. Ob diese seltsame Würfelwahl wirklich Vorteile bringt, kann ich nicht beurteilen, sie ist aber auch nicht der entscheidende Aspekt des Systems.
Charaktere in The Gaia Complex verfügen neben ein paar üblichen Werten über sechs Attribute und einigen zugeordneten Fertigkeiten und spezialisierten Fertigkeiten. Das besondere ist nun, dass die Fertigkeiten über keine eigene Stufe verfügen, sondern nur ansagen, ob ein Charakter in etwas kompetent ist oder nicht. Das mag nach einem kleinen Unterschied klingen, hat aber massive Konsequenzen. Aber der Reihe nach …
Vor einer Probe wird eine Schwierigkeit festgelegt. Ist diese nicht höher als das relevante Attribut, wird ein kompetenter Charakter – also jemand, der oder die über die passende Fertigkeit verfügt – die Probe ohne Würfelwurf bestehen, solange es keine besonderen Umstände gibt. Fällt die Schwierigkeit höher aus, oder ist der Charakter nicht kompetent, werden 2W12 geworfen und mit dem Attribut verglichen. Kompetente Charaktere brauchen einen Erfolg, während Laien mit beiden Würfeln unter dem Attribut liegen müssen. Damit ist bereits das meiste über das System gesagt. Grit-Punkte und Spezialisierungen erlauben Neuwürfe und natürlich gibt es noch ein paar Sonderregeln für den Kampf. Das System selber kommt aber mit etwa 20 Seiten aus und ist schnell verstanden und anschaulich erklärt. Lediglich die Rolle der Schwierigkeit, die wirklich nur dafür da ist, zu entscheiden, ob eine Probe überhaupt gewürfelt werden muss, hätte für mich etwas klarer sein können.
Auch Gewalt gehört fest zum Thema, die Darstellung bleibt aber vergleichsweise harmlos.
Inwieweit sich das System am Tisch bewährt, kann ich ehrlicherweise nicht beurteilen. Ich bin zumindest skeptisch, was die Wahl von dreiseitgen Würfeln angeht. Ich weiß jedoch zu schätzen, dass das System durch seine Fertigkeiten einen ungewohnten Weg einschlägt, der zwar nah an konventionellen Systemen bleibt, aber beim genauerem Hinschauen einiges anders macht. The Gaia Complex erfindet das Rad nicht neu, aber ist auch auf Systemebene mehr als nur eine Kopie.
Umfang und Zukunft
Das Grundbuch bietet auf etwa 290 Seiten alles, was man zum Spielen braucht. Durch den knappen Regelteil ist genug Platz für umfangreiche Ausrüstungslisten und äußerst viel Hintergrundinformationen. Im Gegensatz zu lange etablierten Systemen, wie etwa Cyberpunk, Shadowrun oder das in vielen Spielen und Romanen weiterentwickelte Android Universum, bleiben aber natürlich große weiße Flecken. Das ist sicher kein Zufall, vielmehr setzt das Spiel bewusst auf die Kreativität der Spielgruppe. So gibt es auch keine vorgefertigten Abenteuer, sondern sogenannte Data Seeds, die mit groben Pinselstrichen ein Abenteuer umreißen und der Gruppe dabei äußerst viele Freiräume lassen.
Dennoch wird der Gaia Complex weiter ausgebaut werden. Ein Ausrüstungsbuch ist bereits kurz vor Fertigstellung und die Zukunft soll neben weiteren Data Seeds etwa eine große Publikation pro Jahr bringen.
Das Produkt wurde kostenlos für die Besprechung zur Verfügung gestellt.