Kein Autor hat mich mit seinen Büchern so durch mein Erwachsenwerden begleitet wie Stephen King. Auch heute ist er noch Teil meiner Lesekultur, mit seinen alten Klassikern, die ich immer wieder aus dem Regal hole, genauso wie mit seinen aktuellen Werken. Und ich hoffe, er wird es noch ganz lange tun. Denn: große Liebe!! Ich bin mir sicher, ihr versteht mich.
Kein Wunder also, dass ich Fairy Tale mit großer Aufregung und Vorfreude erwartet habe. Und natürlich wurde ich nicht enttäuscht. Schließlich ist und bleibt Stephen King nicht nur ein Meister seines Fachs, sondern schlicht und ergreifend "Der Meister". Und dass er diesen Titel zu Recht verdient hat, beweist er mit seinem modernen Märchen einmal mehr.
Ein modernes Märchen
Denn genau das ist Fairy Tale: ein modernes Märchen. Wer aufmerksam liest – was ich nur empfehlen kann, um in den vollen Genuss der schriftstellerischen Genialität des Autors zu kommen – wird eine Menge Anspielungen auf Klassiker der Märchenlandschaft entdecken. Manche von ihnen spielen eine eher kleine Rolle, während andere deutlich mehr Raum einnehmen und es so scheint, als würden altbekannte Figuren wie Rumpelstilzchen oder der Däumling in neuem Gewand und mit neuen Aufgaben und Funktionen lebendig werden.
Nicht jedes Märchen endet mit einem "Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage". Es gilt, Abenteuer zu erleben, Herausforderungen zu meistern, gegen Riesen oder Drachen zu kämpfen, sich durch eine Dornenhecke zu schlagen oder einer Hexe den Garaus zu machen. Der Ausgang des Abenteuers bleibt dabei bis zum Schluss ungewiss. Auch all diese Elemente finden sich in Fairy Tale wieder, wenn auch auf ihre ganz eigene Art und Weise – oder vielmehr die des Autors. Doch bis es so weit ist, lernen wir Charlie und die treuen Begleiter kennen, die ihn auf sein ganz persönliches, größtes Abenteuer vorbereiten. Dabei erhalten wir Einblicke in seine Gedanken- und Gefühlswelt, die er uns als Ich-Erzähler offenbart, und knüpfen wir ganz schnell Freundschaft mit ihm, gehen in Verbindung, treten in Beziehung. Die Charaktere werden so lebendig und wachsen dem Lesenden so schnell ans Herz wie bei kaum einem anderen Autor – weil King sie so authentisch erzählen lässt. Weil er es raushat, sie nicht nur ihre Geschichte berichten zu lassen, sondern die Lesenden mitzureißen und sie für ihre Schicksale zu begeistern. Weil sie so echt wirken. So nahbar. So normal. So menschlich. Die Helden und Heldinnen in Stephen Kings Romanen werden nicht als solche geboren, sondern ihr Leben lässt sie zu ihnen heranwachsen und -reifen. Und als Lesender ist man hautnah dabei.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf
Was sich auf den ersten 330 Seiten wie ein ganz besonders erzählter Roman liest, verdient sich mit den darauffolgenden 550 Seiten die Zusatzbezeichnung "Fantasy". Wir wechseln zusammen mit Charlie und seiner Begleitung in eine Parallelwelt, in ein anderes Land, ein Königreich. Die Geschichte nimmt an Fahrt auf, wird abenteuerlich, fantastisch, zum Teil düster, blutig. Denn Charlie ist nicht irgendwer – er hat eine Aufgabe zu erfüllen, die die Rettung eines Königreichs beinhaltet, das von einer zerstörerischen Krankheit befallen wird und in dem dunkle Mächte ihr Unwesen treiben, auch wenn er zunächst noch nichts davon weiß. Doch schnell verändert sich alles, schnell nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Und ein Zurück gibt es nicht, dafür ist Charlie zu verantwortungsbewusst. Und dafür steht zu viel auf dem Spiel. Nicht nur das Königreich selbst, sondern auch die Freunde, die Charlie binnen kürzester Zeit findet.
Die Handlung wird in der zweiten Hälfte des Buches vielschichtiger und verstrickter. Nicht jedes Detail konnte mich dabei überzeugen, nicht jeder Handlungsschritt begeistern. Der Fokus hat sich für mich zu sehr auf die Handlung im Außen verschoben, mir hat dadurch teilweise die Nähe zu den Charakteren gefehlt. Nichtsdestotrotz erkenne ich einen King, wenn ich ihn lese. Auch dieser ist ein typischer Klassiker mit fantastischen und teilweise auch extrem spannenden Elementen. Bis zum Ende habe ich mitgefiebert, kann auch nicht verleugnen, dass ich im Laufe des Buches die eine oder andere Träne verdrückt habe. Und auch das macht für mich einen King aus: dass er mich berührt, mich bewegt, mich trifft.
Meisterlicher Erzählstil
Was ich am Erzählstil von Stephen King am meisten schätze, liebe und ehre, ist, dass er sich Zeit nimmt und Zeit lässt. Keines der vielen, vielen Worte, die seine Wälzer ausfüllen, ist unnötig. Jedes Einzelne hat seine Bedeutung, seinen Sinn und seine Wichtigkeit. Am Ende ergeben sie alle ein Gesamtbild, bei dem die Figuren in ihrer Vielschichtigkeit gezeichnet werden und die Handlung so lebhaft und bildreich beschrieben wird, dass sich ein Farbenmeer vor dem inneren Auge des Lesenden entfaltet. Es sind die feinen Verstrickungen, die von einem roten Faden zusammengehalten werden. Es sind Ereignisse, die erst rückblickend einen Teil des großen Ganzen ergeben. Es sind Erfahrungen, die man lieber nicht gemacht hätte, und die doch dazugehören müssen, weil sonst alles Nachfolgende nicht hätte geschehen können.
Über die Liebe
Mit Love hat er es schon einmal getan, und auch dieses Buch ist eines über die Liebe:
- die Liebe eines Sohnes zu seiner Mutter, und umgekehrt
- die Liebe eines Sohnes zu seinem Vater, und umgekehrt
- die Liebe eines Jungen zu einem Hund, und umgekehrt
- die Liebe eines Jungen zu einem alten Mann, und umgekehrt.
Und das ist nur der Beginn des Buches. Auf knapp 900 Seiten ist so viel Raum für Liebe.