Mit RED ist die mittlerweile vierte Auflage des klassischen Cyberpunk-Rollenspiels von Mike Pondsmith und seinem Team erschienen. Ursprünglich aus dem Jahre 1988 führte es uns einst in die düstere Zukunft von Night City des Jahres 2013. Mittlerweile hat die echte Welt die fiktive von Cyberpunk überrundet. Mit jeder Edition wurde die Zeitlinie daher aktualisiert und nach hinten verlegt, wobei RED die Rote Ära im Jahre 2045 begründet. Es spielt 32 Jahre vor Cyberpunk 2077, und auch wer bisher noch nichts von Cyberpunk-Tischrollenspiel gehört hat, dürfte bei dieser Jahreszahl hellhörig werden. Cyberpunk 2077, entwickelt vom polnischen Studio CD Project Red, war schließlich einer der Gaminghypes des Jahres. Dieses budgetgeplagte und umstrittene Computerspiel basiert tatsächlich lose auf der Pen-and-Paper-Vorlage, und Cyberpunk RED wiederum ist selber im Zuge des Computerspiels entstanden. Dabei ist RED weit mehr als ein Lizenzprodukt, das auf der Hypewelle reitet, sondern eine vollwertige Edition im Geiste der Rollenspielvorgänger. Vollwertig darf dabei ernst genommen werden. Das hier zugrundeliegende Grundregelwerk kommt mit satten 456 Seiten daher und liefert außer Würfeln und Stiften alles, was wir zum Spielen brauchen: Regeln, Rollen, Hinweise zum Leiten eines Cyberpunk-Rollenspiels, Einstiegsabenteuer, Ausrüstungslisten und Hintergrund. Jede Menge Hintergrund. Wer also wirklich nicht weiß, was es mit diesem Cyberpunk auf sich hat, wird mit allem versorgt.
Style over Substance
Bei der Präsentation des Hintergrundes spielt das Buch bereits eine seiner Stärken aus. Es nimmt uns mit Querverweisen und einer durchdachten Anordnung an die Hand und überfordert nicht mit Details. Wir können den Wälzer auch vorne aufschlagen und werden ohne Vorkenntnisse Schritt für Schritt ins Spiel gezogen, dabei bleibt es aber nicht aus, dass manche Informationen doppelt vorkommen. Auch die Frage, was Cyberpunk ist, wird aufgegriffen, und anhand von drei Fragen wird zumindest das Flair des Spiels vermittelt. Dass das Flair mindestens genauso wichtig ist wie Inhalt, wird gleich von der ersten Regel aufgegriffen: Style over Substance beziehungsweise Mehr Schein als Sein. Style ist demnach neben der Einstellung der Charaktere und einem ständigen Leben am Limit das, was Cyberpunk-Rollenspiel auszeichnet. Dazu gehört die nachgeschobene Regel: Brich die Regeln! oder Mach Dein eigenes Spiel draus!
Dreckige Freiheit
Individualisierung wird nicht nur in der Spielwelt großgeschrieben, sondern auch am Spieltisch. RED gibt uns eine Zeitlinie mit Schlüsselereignissen und einer Handvoll wichtiger Konzerne an die Hand. Was wir daraus machen, liegt weitgehend an uns. Das zeigt sich schon in der Charaktererstellung. Auf den ersten Blick stehen uns nur zehn Charakterklassen – vom Rockster bis zur Netrunnerin – zur Verfügung, die sich jedoch als äußerst flexible Gerüste entpuppen, um unsere Vorstellungen umzusetzen. Es sind die exklusiven Sonderfertigkeiten, die die Rolle ausmachen. Generell lädt uns das Buch schon früh dazu ein, selber aktiv und kreativ zu werden. Auch wer die einfachste Form der Charaktererstellung wählt – RED kennt drei unterschiedlich komplexe Arten des Charakterbaus –, wird durch Lebenswegtabellen inspiriert, den Hintergrund mit Leben zu füllen. Durch ein paar Würfelwürfe entsteht so ein Charakter mit einem gehörigen Maß an Drama, Konflikten und Cyberpunk-Feeling, obwohl wir vielleicht noch gar kein tiefes Verständnis von der Spielwelt haben. Ungewöhnlich dabei ist, dass die Lebenswege keinen Einfluss auf die Charakterwerte haben. Das vermeidet Rechenaufwand und drängt uns nicht in die Richtung besonders effektiver Lebenswegstationen. Da wir inspiriert und nicht eingeengt werden sollen, können wir unsere Würfelergebnisse durch Wunschereignisse ersetzen, und niemand hindert uns daran, die bereits recht weit gefassten Ergebnisse durch ganz eigene Ideen zu ersetzen.
Nur wenige Parameter sind fest vorgegeben. Wir stehen am unteren Ende der Nahrungskette und kämpfen um unser Überleben. Außerdem sollten wir ein persönliches Ziel verfolgen. Der beständige Kampf ums Überleben – und sei es nur Essen und Miete – passt dabei zu einer tödlichen, von Verarmung geprägten Welt. Die rote Ära ist noch brutaler, rauer und unangenehmer als die Vorgänger und weist starke postapokalyptische Züge auf. Damit das Spielerlebnis nicht zum bloßen Kampf gegen eine Abwärtsspirale verkommt, sind die persönlichen Ziele und Überzeugungen entscheidend. Wir werden Night City nicht verändern, aber vielleicht unser Viertel und unsere Kontakte. Wir werden keine unbesiegbare Legende, aber wir können unsere persönliche Rache üben und auf dem Weg Mensch bleiben – sofern wir denn wollen.
Der Mensch als Maschine
Damit greift RED eins der zentralen Motive des klassischen Cyberpunks auf: die Frage, wie viel Mensch oder Maschine wir sind. Das wird im Spiel dadurch abgebildet, dass unser Technikanteil von unserer Menschlichkeit zehrt. Das sollte aber mit etwas Fingerspitzengefühl gedeutet werden. Schließlich sind Prothesen längst Teil unserer Realität, und man käme hoffentlich kaum auf die Idee, einer Paralympics-Springerin mit Sprungprothese zuzuschreiben, nur noch zu 90 Prozent menschlich zu sein. Vor dem Cyberpunk-Hintergrund sieht das allerdings etwas anders aus, schließlich geht es um hochtechnisierte, computerbasierte Systeme, die auf intimste Weise auf unseren Organismus einwirken. Etwas ist uns 2045 also noch voraus, wenngleich es nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis so manche Vision zur Realität wird.
Regeln der Straße
Für das Regelsystem benötigt man aber keine Neuralverbindung. Das zur Anwendung kommende Regelsystem ist vergleichsweise simpel gehalten. Um eine Probe abzulegen, addieren wir zu Attribut und Fertigkeit das Ergebnis eines zehnseitigen Würfels. Die Summe vergleichen wir mit einem Schwierigkeitsgrad oder dem Ergebnis eines konkurrierenden Charakters. Das Prozedere wird in Kämpfen erwartungsgemäß etwas komplexer. Hier kommen Schadenswürfe, Rüstungswerte, Deckung und andere Faktoren hinzu. Obwohl das Grundprinzip simpel bleibt, merkt man dem Spiel eine recht klassische Spielphilosophie an. Es wird mit einer sehr umfangreichen Fertigkeitsliste gearbeitet, Wundschwellwerte entscheiden, ob der Charakter durch Verletzungen eingeschränkt ist, und Fahrzeuge können Strukturschäden erleiden. Das Meiste kennt man in anderer Form aus vergleichbaren Spielen, was auf der anderen Seite bedeutet, dass man hier kein Risiko eingeht. Cyberpunk RED vereint in einem Buch alle Regeln, die wir am verchromten Spieltisch brauchen, sticht aber nicht durch einen besonderen narrativen Fokus oder außergewöhnliche Regelverzahnungen hervor.
Zurück in die dunkle Zukunft
Rollenspiele in einer nahen, cyberpunk-inspirierten Zukunft gibt es mittlerweile viele. Sei es der Fantasy und Technik vermischende Klassiker Shadowrun, der innovative Sprawl, das bunte Android-Universum, das zynisch-blutige SLA Industries oder das dystopische a|state. Cyberpunk und seine neueste Auflage RED ist dagegen der Klassiker des Genres. Man bekommt genau das, was der Titel verspricht: einen behutsam modernisierten Cyberpunk-Hintergrund, der das ursprüngliche Flair des Genres bewahren will.
Bei der Lokalisierung haben Truant Spiele und insbesondere Übersetzer Jan Enseling ganze Arbeit geleistet. Das ist gerade bei einem auf Coolness und Techno-babble1 ausgelegten Hintergrund keine Selbstverständlichkeit. Es wurde nicht zwanghaft versucht, jeden Anglizismus zu vermeiden, sondern sie wurden so weit eingedeutscht, dass es an den deutschsprachigen Spieltisch passt, ohne sich zu verrenken. Zentraler Schauplatz ist und bleibt auch in der deutschen Ausgabe die amerikanische Großstadt Night City, die oft auch als Stadt der Träume bezeichnet wird. Der Rest der Welt wird zwar thematisiert, der Metroplex zwischen San Francisco und Los Angeles bildet aber das klare Zentrum des Spiels.
Also Runner, jetzt dürftest Du wissen, was Cyberpunk RED ist und ob Du Dich in die Stadt der Träume trauen kannst!
Dieser Artikel erschien erstmals in der Zauberwelten Herbst 2021.