„Herzlich Willkommen zur Auftaktveranstaltung unserer diesjährigen Barcamp-Reihe. Es freut mich, so viele vertraute, aber auch einige neue Gesichter zu sehen.“
Frau Weihnachtsfrau hatte ihr herzlichstes Lächeln aufgesetzt und strahlte neben ihrem Stehpult, das eigentlich ein Notenständer war, in die große Runde. Ihre Hände vor dem Bauch ruhend, ließ sie ihre Begrüßung wirken.
„Wie ihr alle wisst, sind wir mittlerweile in die heiße Phase eingetreten. Bis Weihnachten sind es nur noch wenige Tage. Das bedeutet, dass allerorts proportional zur Vorfreude das Stresslevel steigt. Nicht nur hier bei uns, sondern weltweit.“ Die Mine von Frau Weihnachtsfrau wurde ernst. Sie hob warnend den Finger. „Auch wenn es so gar nicht im Geiste der Weihnacht ist, sehen wir hier der Realität fest in ihr ruppiges Auge; Streitereien und Krisen sind in den nächsten Tagen unausweichlich. Nicht nur hier bei uns, sondern und vor allem weltweit. Dem gilt es sich zu stellen. Und genau deshalb haben wir uns heute hier versammelt.“
Frau Weihnachtsfrau setzte wieder ihren warmen Gesichtsausdruck auf, machte zwei kleine Schritte vorwärts und öffnete einladend die Arme.
„Für all diejenigen, die heute zum ersten Mal ein Barcamp mitmachen, möchte ich erklären, wozu wir diese Kurzveranstaltung anbieten. Wir erhalten jedes Jahr eine wirklich bedeutende Anzahl Wunschzettel, I-Mehls, Zwitternachrichten und dergleichen mehr von Kindern, die sich einmal ein Weihnachten ohne Streit in der Familie wünschen. Daher sehen wir im Zuge des Ausbaus unserer Serviceleistungen hier eine perfekte Möglichkeit, unsere Kernkompetenzen zu präsentieren. Wir haben eine Notdienst-Hotline für Erwachsene bzw. Eltern eingerichtet, die darüber informiert, wie man sich bei typischen Problemen, die während der Weihnachtsfeiertage auftreten, verhalten sollte. Damit ihr, liebe Mitarbeitende, die am anderen Ende der Leitung den Menschen mit Rat zur Seite stehen bzw. sitzen werdet, gut gerüstet seid, steht das heutige Barcamp unter dem Motto ‚Deeskalation für Familienangehörige – Wie man Weihnachten so gut wie unbeschadet übersteht‘.“
Ein zustimmendes Murmeln ging durch die engbesetzten Reihen. Frau Weihnachtsfrau ging zurück zum Notenständer.
„Wir wollen zuerst einige der typischsten Situationen benennen, die am Heiligen Abend oder über Weihnachten mittelschwere bis eskalative Krisen im Familienkreis auslösen können. Danach werde ich die Methode vorstellen, mit der man diese Krisen beseitigt oder bereits im Keim erstickt.“ Frau Weihnachtsfrau griff nach dem Mei-Ham-Gerät, das auf dem Notenständer lag, und trat an die Rückwand des Raumes, die komplett mit Eis überzogen war. „Ich werde die Beispiele hier am White-Board einmeißeln. Bitte einfach zurufen, was einfällt.“
„Die Gans verbrennt im Ofen“, erschallte es sofort von hinten.
„Oder sie wird vom Familienhund gefressen“, warf jemand ergänzend von der Seite ein.
„Ah, ja, wir starten gleich mit zwei Klassikern“, lächelte Frau Weihnachtsfrau und ratterte mit dem Mei-Ham über die Eiswand. „An dieser Stelle möchte ich auch gleich auf die folgenden Barcamps ‚Gans, Tofu und Co.‘ und ‚Hilfe, mein Hamster steckt im Weihnachtsbaum‘ hinweisen, die sich näher mit der entsprechenden Problematik der Stolperfallen Essen bzw. Tiere zu Weihnachten befassen. Weitere Vorschläge?“
„Es muss alles perfekt sein“, sagte eine Wichtelin in der ersten Reihe.
„Hm, ja, damit ist der Nervenzusammenbruch schon vorprogrammiert“, meinte Frau Weihnachtsfrau wissend und ließ das automatisch surrende Hämmerchen über die Eiswand gleiten.
„Die Kinder nörgeln. Sie wollen ihre Geschenke und wenn sie diese dann haben, mögen sie sie nicht oder es sind ihnen zu wenige.“
Ein Seufzer rang sich aus der Kehle von Frau Weihnachtsfrau.
„Normalerweise sind das die Kinder, die sowieso auf der Unartig-Liste stehen und keine Geschenke bekommen. Aber wir drücken ja immer wieder mal die Augen zu und dann, naja, kommt es zu solchen Situationen.“
„Generell die Familie“, rief ein Wichtel aus der Mitte zu. „Wenn Onkels, Tanten, Schwiegereltern und Co. zu Besuch kommen, die sich untereinander nicht ausstehen können.“
Frau Weihnachtsfrau nickte nur und gravierte das Beispiel ein.
„Und wenn Alkohol ins Spiel kommt. Dann geht’s meist so richtig rund“, ergänzte jemand anderes.
„Das stimmt auch leider“, meinte Frau Weihnachtsfrau. „Wir sagen ja nicht umsonst: Ein Gläschen lockert die Zunge, eine Flasche lässt sie rausfallen. Aber gut, das soll uns erstmal genügen.“
Frau Weihnachtsfrau legte das Mini-Meißel-Hammergerät wieder auf den Notenständer zurück und hob zugleich ein kleines Glöckchen, das daran hing, auf. Dann wandte sie sich wieder ihrem Publikum zu.
„Ich sehe, hier sind eindeutig Erfahrungen vorhanden. Diese Situationen und noch viele mehr können vorkommen und sie tun es auch. Was ich euch nun mitgeben möchte, damit ihr, wenn die Notrufe eingehen, angemessen helfen könnt, ist die sogenannte SNOW-STAR-Methode. Diese Methode wurde entwickelt, um selbst die aufgeregtesten und schwierigsten Anrufer zu beruhigen und so Tipps und Tricks zur Bewältigung der Krise an die Hand zu geben. Denn wir wissen ja, dass die Leute immer erst anrufen, wenn die Gans verkokelt ist und die Hütte bereits brennt. Und dann ist es bekanntlich nicht mehr so einfach, ruhig mit jemandem zu sprechen. Aber mit der SNOW-STAR-Methode ist es nicht nur ein leichtes, den aggressiven Anrufenden in den Griff zu bekommen, sondern ihm oder ihr bei seinem oder ihren Problem zu helfen.“
Frau Weihnachtsfrau hob das kleine Glöckchen in die Höhe.
„Und da wir hier den modernen Präsentationsrichtlinien folgen, getreu dem Motto ‚show don’t tell‘, habe ich zu meiner Unterstützung einen besonders lieben Kollegen eingeladen. Wenn ich bitten dürfte.“
Frau Weihnachtsfrau ließ ein feines Klingeln ertönen. Die Tür schlug mit einem lauten Knall auf und ein imposanter Eisbär stand aufrecht darin. Die Anwesenden zogen lauthals die Luft ein und hielten den Atem an. Die Wichtelin in der ersten Reihe fiel vor Schreck beinahe in Ohnmacht und konnte nur mit Mühe von ihrem Sitznachbarn davor bewahrt werden, von ihrem Platz zu rutschen.
„Keine Sorge.“ Frau Wichtelfrau hob beruhigend die Hände und lächelte selbstsicher. „Es kann überhaupt nichts passieren. Normalerweise sind Eisbären gefährlich, keine Frage. Aber dieser Bär hier wurde zuvor mit der besagten SNOW-STAR-Methode behandelt und ist damit absolut ausgeglichen und friedlich. Bitte Petzi, komm doch herein und führe deine Ausgeglichenheit vor.“
Der Eisbär stampfte auf zwei Hinterbeinen und mit geballten Vorderpfoten in den Raum. Dabei schaute er äußerst grimmig drein. Als er bei Frau Weihnachtsfrau angekommen war und sie anstarrte, drehte sie ihn mit einem zuckersüßen Lächeln den Teilnehmenden zu. Der Bär ließ das mit sich geschehen, aber die Wichtel in den ersten Reihen bekamen Herzrasen und kalkweiße Gesichter, als sie von dem Tier fixiert wurden.
„Ich habe vorhin mit unserem Petzi geübt. Er war, wie bei Eisbären so üblich, nicht unbedingt erfreut, als man ihn von der Eisscholle zog. Ein Bär in dieser Stimmung ist aber eine perfekte Simulation für eine Familie am Heiligen Abend, die kurz vor der Eskalation steht. Ich habe dann die SNOW-STAR-Methode angewandt und wie ihr alle sehen könnt, ist Petzi nun der Liebreiz in Person.“
Petzi öffnete langsam das Maul und zeigte eine Reihe spitzer Hauer, von denen der Geifer auf den Boden tropfte. Die Wichtel der ersten Reihen bekamen zusätzlich zu den zitternden Unterlippen einen kollektiven Schweißausbruch.
„Die SNOW-STAR-Methode ist eine Abkürzung für eine leicht zu merkende Abfolge von Handlungen, nach deren korrekter Anwendung das Gegenüber wieder ins innere Gleichgewicht findet. Und da die Methode so einfach ist, kann der Anrufende sie, nachdem er sie am eigenen Leib erfahren hat, nach dem Telefonat bei der eigenen Familie anwenden. Man muss eben nur die Reihenfolge kennen. Diese lautet: Sanft begrüßen, Nicht auflegen, Ohren aufsperren, Wut-und-Wunsch erkennen, Säuselnd singen, Tipp geben, Antwort abwarten, Repeat. Und zwar solange, bis sich das gewünschte Ergebnis, also Zufriedenheit beim Anrufenden, einstellt. Es ist wirklich ganz einfach und jeder kann sich das merken.“
Vor allem die Wichtel in den vorderen Reihen sahen nicht so aus, als ob sie sich in diesem Moment irgendetwas merken konnten. Petzi begann gerade, beide Vorderpfoten zu heben und bedrohlich auf die Wichtel zuzugehen, als Frau Weihnachtsfrau ihm ins Fell griff und mit einer schwungvollen Drehung zu sich heranzog.
„Nicht wahr, mein lieber Petzi?“ Frau Weihnachtsfrau kniff dem Bären in die Wange und zuckelte daran herum, dass diese wabbelte. „Du bist ein ganz lieber, braver Bär.“
Ein dunkles Grollen stieg den Rachen des erbosten Tieres empor und suchte sich langsam seinen Weg nach draußen. Doch Frau Weihnachtsfrau schien das nicht wahrzunehmen. Die Wichtel hingegen umso mehr. Die ersten schielten schon zum Ausgang und einige in den hinteren Reihen waren bereits dabei sich zeitlupenartig zu erheben. Das wiederum bemerkte Frau Weihnachtsfrau sehr wohl.
„Was ist denn los? Wieso wollt ihr schon gehen?“
„Es ist ziemlich heiß hier drin und wir brauchen alle frische Luft“, meinte ein Wichtel ausweichend und fächelte sinnlos mit seiner Hand vor dem Gesicht herum. Andere Wichtel hatten ihre gefütterten Jacken ausgezogen, während sie sich Schritt um Schritt in Richtung Tür schlichen.
„Ach das“, Frau Weihnachtsfrau winkte lachend ab. „Das liegt nur daran, weil ich vor Beginn der Veranstaltung die Fussbodenheizung auf die höchste Stufe gestellt habe. Ich wollte die Stimmung ein wenig anheizen, sonst wäre die Vorführung der SNOW-STAR-Methode doch zu einfach geworden. Nun lauft doch nicht alle auf einmal weg, so warm ist es hier drinnen auch wieder nicht … He … Petzi … wieso hast du dein Maul so weit aufgerissen? Das ist hier kein Seminar für Zahnpflege oder Rachenputzer“, wunderte sich Frau Weihnachtsfrau, bevor sie langsam anfing, zu begreifen. „O-oder sollen wir noch einmal eine Runde mit der SNOW-WAR-Methode … ich meine der SHOW-STAR … nein? Äh … naja … hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass wir auch ein Barcamp für den Umgang mit Tieren zu Weihnachten angesetzt haben? Es heißt Mei-Ham-Star versteckt sich im Weihnachtsnest … oder … so … ähnlich … WARTET AUF MICH!!“
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