Kriminal- und Abenteuerspiele sind längst kein Nischenprodukt mehr, sondern fest im spielerischen Mainstream angekommen. Dementsprechend ist das Angebot voll von Spielen, die mit einem mehr oder minder innovativen Twist überzeugen wollen. Auch wenn das Niveau mittlerweile sehr hoch ist und es kaum echte Enttäuschungen gibt, bin ich zunehmend schwerer zu begeistern. Dementsprechend skeptisch war ich ob der großen Präsenz der Backstories auf der Spiel 24. Auch wenn der Hersteller La Boite de Jeu und Lucky Duck Games, die für die englische Lokalisierung verantwortlich sind, durchaus hohe Erwartungen rechtfertigen, war es doch etwas groß für "noch so ein Abenteuerspiel".
Um nicht in Click Bait zu verfallen: Mich konnte das Spiel überzeugen und hat meine Erwartungen übertroffen.
Worum geht es im etwa 60-90-minütigen Abenteuerspiel? Wir verkörpern gemeinsam Hauptcharakter Sophie, deren Bruder Jon verschwunden ist. Wie für ein Kriminalspiel üblich, überlassen wir die Suche natürlich nicht den Behörden, sondern machen uns selbst auf den Weg unseren Bruder zu finden, was erwartungsgemäß in einem spannenden Abenteuer mündet. Der Aufhänger an sich ist noch keine Überraschung, Geschwister verschwinden im Genre wie der Sand im Meer. Dass der arme Jon auf einer einsamen Bergstation, dem Nid d'Aigle Refuge am verschneiten Mont Blanc verschwunden ist, macht es dann schon interessanter. Und dann hören wir auch noch Gerüchte von einem großen Kunstschatz, der in der Region versteckt sein soll. Und was haben die grimmig dreinblickenden schwarz gekleideten Männer vor Ort damit zu tun?
Nun gut, der Aufhänger wird keinen Innovationspreis gewinnen und auch die weitere Handlung erfindet das Genre sicher nicht neu. Ohne zu Spoilern kann jedoch gesagt werden, dass die Handlung vergleichsweise plausibel ist und durch eine gute Dramaturgie punkten kann. Der erste Fall der Backstories spielt sich etwas mehr wie ein Thriller oder Actionfilm denn wie ein Kriminalspiel, was durchaus überzeugen kann. Nachdem wir eigentlich nur mal ein paar Karten ausprobieren wollten, haben wir Alone under the Ice nämlich direkt durchgespielt, ohne dazwischen einen Hänger zu haben. Wir wollen dranbleiben. Das ist im Genre keine Selbstverständlichkeit.
Die Rückseite der Medaille
Der durchaus fesselnde Charakter des Spiels erklärt sich neben der soliden Dramaturgie sicherlich auch durch die innovativen Mechanismen. Die Backstories spielen sich komfortabel und äußerst interaktiv. Ohne viele Regeln können wir direkt losspielen und erhalten durch geschickte Führung durch die Karten ganz nebenher eine erstaunlich tiefgehende Spielmechanik. Das gelingt durch die titelgebende Nutzung der Rückseiten …
Ähnlich wie in T.I.M.E.-Stories spielen wir uns durch Panoramenbilder bei denen die Interaktionen auf den Rückseiten stattfinden. Anders als bei der erfolgreichen Adventure Game Reihe lesen wir hier aber die Rückseiten nicht einfach durch, sondern wenden Aktionskarten an, die immer nur eine bestimmte Sektion der Karte zeigen. So können wir ähnlich wie in einem Point-and-Click Computerspiel mit Charakteren reden, Objekte auf Situationen anwenden oder etwa nach bestimmten Themen fragen. Die jeweiligen Aussparungen geben uns dann den Blick auf die passende Reaktion frei und/oder weisen uns an, weitere Karten zu ziehen, die komplexere Szenen, Gegenstände oder auch Zustände unseres Charakters darstellen. So gelingt es mit vergleichsweise wenig Aufwand, komplexe Entscheidungen abzubilden und Veränderungen unseres Charakters und der Umgebung abzubilden. Dabei findet sich fast alles, was wir an Regeln wissen müssen, direkt auf den Karten, sodass eine sehr geschmeidige Lernkurve eintritt und auch mühelos neue Teilmechaniken eingeführt werden können.
Im sichtbaren Kartenbereich finden wir Text, verweise auf andere Karten und gelegentlich sogar Bedingungen
Wie fast alle Spiele dieses Typus lässt sich eine Backstories Mission nur einmal sinnvoll spielen. Zwar kann man theoretisch andere Wege und leicht andere Enden ausprobieren, das ist in der Praxis aber eher lästig. Im Gegenteil: Es ist eine große Stärke, das wir das Spiel üblicherweise nicht mehrmals neu starten müssen, sondern das Spiel in einem Rutsch spielen können. Hier war etwa besagtes T.I.M.E.-Stories anders aufgestellt und hat uns gezwungen, den richtigen Weg durch viel Trial and Error zu finden und Neustarten fest eingeplant, was sehr mühselige Wiederholungen mit sich brachte. Davon ist hier nichts zu spüren, wenngleich ich nicht ausschließen möchte, dass es Sackgassen gibt, die wir nicht gefunden haben und weitere Geschichten anders konzipiert sein könnten.
Abwägungen
Der Einmal-Charakter des Spiels wirft die typische Frage auf, ob die etwa ein bis anderthalbstündige Erfahrung die ca. 15€ wert sind. Für ein reines Kartenspiel mit etwas weniger als 130 Karten ist der Preis vergleichsweise hoch. Kartenspiele mit ähnlicher Spieldauer fallen meist etwas günstiger aus, nutzen aber auch oft ein weniger opulentes Artwork und weniger Karten. Meines Erachtens ist der Preis durch sein einmaliges und sehr leichtgängiges Spielprinzip, die stimmungsvollen Illustrationen und das qualitativ hochwertige Material gerechtfertigt.
Auch wenn es in Echt nicht so aufgeräumt aussehen dürfte: Links oben finden wir unseren aktuellen Ort, auf dem nochmal unser aktuelles Teilziel formuliert ist. Rechts im Bild ein Ausschnitt des ersten Panoramas mit dem wir anhand der Aktionskarten (links) interagieren.
Zuletzt bleibt die Sprachhürde. Bisher liegen die ersten beiden Backstories nur im französischen Original vor. Eine dritte Story ist angekündigt. Der von uns gespielte Fall ist von Lucky Duck Games ins Englische lokalisiert worden. Eine deutsche Lokalisation ist höchstwahrscheinlich, Verlag und Zeitpunkt sind jedoch noch nicht spruchreif. Da das Spiel vom Ambiente lebt und durchaus einige Vorlesetexte enthält, muss jede Gruppe selber entscheiden, ob sie auf die deutsche Version warten will. Wir empfanden das Englisch als zugänglich und die Texte durch die erklärende Bebilderung gut zu verstehen, sind jedoch auch englischsprachige Crimegames gewohnt.
Fazit:
Wie eingangs erwähnt, bin ich von den Backstories sehr positiv überrascht worden. Was auf den ersten Blick als Gimmick erscheinen mag, entpuppt sich als ein innovatives Prinzip. Das sehr geschickte Abenteuerdesign und die comichaften Illustrationen sorgen für ein geschmeidiges Erlebnis, das sich wirklich anders spielt als andere Vertreter des Genres. Hier gibt es nicht einfach ein paar andere Regeln, um Codes oder Gegenstandskombinationen abzubilden, sondern das ganze Abenteuer wurde um das kluge Kombinieren von Aktionen und Karten herum gestaltet. Klare Kaufempfehlung und bitte mehr davon!
Das Produkt wurde kostenlos für die Besprechung zur Verfügung gestellt.
Dieser Artikel ist erschienen bei:
Zauberwelten-Online.de