Auf den ersten Blick verfolgt Seanan McGuires Der Atem einer anderen Welt Ideen und Konzepte, wie wir sie bereits aus Geschichten wie Alice im Wunderland, Die Chroniken von Narnia und Coraline kennen. Kinder finden magische Türen in fremde, teils verrückte Welten und erleben dort Abenteuer. McGuire entwickelt diese Prämisse jedoch weiter und arbeitet die Fragen aus, die in bekannten Erzählungen mitschwingen, aber nur selten beantwortet werden: Warum finden genau diese Kinder Türen in fremde Welten? Was passiert mit denen, die wieder in unsere Welt zurückkehren? Was zunächst simpel und märchenhaft wirkt, entpuppt sich bei McGuire als überraschend grausames und doch hoffnungsvolles Narrativ, in dem Begriffe wie „normal“ und „wirklich“ infrage gestellt werden.
Streng genommen ist Der Atem einer anderen Welt kein Roman, sondern eine Sammlung von drei Novellen aus McGuires noch fortlaufender Wayward Children-Reihe. Vom Renommee her legt die erste der Erzählungen, „Der Atem einer anderen Welt“ (engl.: „Every Heart a Doorway“), stark vor: Die Novelle gewann den Locus, den Alex, den Nebula und den Hugo Award; zudem wurde sie für den World Fantasy Award nominiert. Zwar bauen die einzelnen Geschichten teilweise aufeinander auf, sind aber in sich abgeschlossen und können daher auch einzeln genossen werden. Verbindendes Element aller Erzählungen ist „Eleanor Wests Haus für Kinder auf Abwegen“, ein Internat, das zur Heimat und zum Refugium all jener zurückgekehrten Kinder wird, die aus ihren magischen Welten verstoßen wurden.
„Der Atem einer anderen Welt“ handelt von Nancy, die sich noch nicht so recht in ihrer neuen Zuflucht eingefunden hat, als das Internat auch schon von einer mysteriösen, brutalen Mordserie heimgesucht wird. Die zweite Erzählung, „Unter einem roten Mond“ (engl.: „Down Among the Sticks and Bones“), spielt in der Horrorfilmwelt der Zwillinge Jack und Jill, die von ihren Eltern bereits von klein an in vorgefertigte Rollen gepresst wurden und erst unter blutsaugenden Vampiren und verrückten Wissenschaftlern ihren Frieden finden. Den Abschluss bildet die Novelle „Süßer Unsinn“ (engl.: „Beneath a Sugar Sky“), in der die Kinder aus Eleanor Wests Haus in die verschiedensten Welten reisen müssen, um die Ordnung wiederherzustellen, die in der ersten Geschichte durcheinandergebracht wurde.
Wie dieser kurze Überblick bereits verrät, sind die Novellen skurril, sehr unterschiedlich und vor allem äußerst reizvoll. Dabei liegt der Fokus stets auf den vielen Charakteren und ihren Welten, nie aber auf komplexen Handlungen. Jede Geschichte erzählt von den Kämpfen dieser Kinder, die nicht so recht in unsere Welt passen und genau über diesen Status als Misfits der Gesellschaft zusammenfinden.
Jedem Herz seine Welt, oder: Warum „wirklich“ ein Schimpfwort ist
Die Kinder in Der Atem einer anderen Welt finden ihre magischen Türen nicht grundlos. Sie alle sind Außenseiter, die sich in den Rollen, welche die Gesellschaft ihnen aufdrückt, nicht zurechtfinden. Das Spektrum McGuires' Charaktere ist im Vergleich zu anderen literarischen Texten außergewöhnlich – um nicht zu sagen, einzigartig. Ihre Figuren decken die Skalen von Identitäten, Sexualitäten, Ethnizität, Kultur, Schönheitsidealen und Gesellschaftsschichten in jeder erdenklichen Weise ab: Sie sind asexuell, trans*, pansexuell, queer, übergewichtig, nicht-weiß, körperlich eingeschränkt, leben mit Zwangsstörungen, sind Chaoten oder Pedanten und so weiter und so fort. Ihre Türen führten sie in die Welt, zu der sie passen: Bunte Welten voller Unsinn, die ausschließlich aus Zuckerwerk bestehen; ruhige, düstere Unterwelten; Unterwasserwelten; Welten voller Regenbogen. Doch aus den verschiedensten Gründen mussten die Kinder diese Welten verlassen und in die unsere zurückkehren. Ihnen allen bietet Eleanor West, die selbst durch zahlreiche Türen schritt, einen Zufluchtsort und hilft ihnen dabei, sich zurechtzufinden.
Bereits bei ihrer Ankunft im Internat lernt Nancy von Eleanor die vielleicht wichtigste Lektion: „Nichts hiervon ist wirklich, Liebes. Nicht dieses Haus, nicht diese Unterhaltung, nicht wir beide, nicht einmal deine Schuhe […]. ‚Wirklich‘ ist ein Schimpfwort und ich wäre dir dankbar, wenn du es so wenig wie möglich benutzen würdest, während du unter meinem Dach wohnst.“ Was als „normal“, „richtig“ und „wirklich“ angesehen wird, bekommt in Eleanor Wests Haus eine völlig neue Bedeutung. Hier gelten andere Wirklichkeitsvorstellung – und sie alle haben ein Existenzrecht. Unsere Welt und unsere Normen sind in Der Atem einer anderen Welt weder angestrebtes Ideal noch vorgegebener Maßstab. Keines der Kinder im Internat ist „falsch“ und ihre Bedürfnisse sind nicht „unecht“. Das Problem ist nicht, dass diese Menschen nicht in unsere Welt passen, sondern dass die Welt nicht zu ihnen passt.
Die vielleicht größte Stärke der Novellen liegt darin, dass es keineswegs didaktische Erzählungen oder moralische Fabeln sind, die den Lesenden den Umgang mit marginalisierten Gruppen beibringen sollen. Vielmehr zielen sie darauf ab, neue Perspektiven zu eröffnen, für Themen wie Akzeptanz und Heterogenität zu sensibilisieren und so den Horizont zu erweitern.
Die Aufmachung
Das Cover ziert, wie könnte es anders auch sein, eine Tür – genauer gesagt, ein Tor. Es lädt die Lesenden dazu ein, in McGuires Welt(en) abzutauchen und somit die als alltäglich befundenen Begriffe „normal“ und „wirklich“ zu hinterfragen. Die Buchgestaltung ist also nicht nur ästhetisch einladend, sondern auch in puncto Symbolik hervorragend gewählt.
Im Inneren des Hardcover-Buchs geht es mit der Magie weiter: Die Novellen sind mit einigen wunderschönen, wahrlich zauberhaften Illustrationen der Australierin Rovina Cai ausgestattet. Absolut schändlich jedoch: Weder in der Titelei des Buches noch auf der Verlagswebsite wird Cai namentlich erwähnt – und das, obwohl die Illustratorin bereits mehrfach und mit gutem Grund mit diversen renommierten Preisen ausgezeichnet wurde.
Die Entscheidung, drei Erzählungen in einem Band zu sammeln, war die richtige. Leser*innen müssen nicht erst auf die nächste Veröffentlichung warten, wenn sie den nächsten Teil der Reihe lesen wollen, sondern können sich mit einem Griff über drei sehr unterschiedliche Geschichten freuen. Dabei ist das Buch dennoch nicht wuchtig, sondern hat mit 460 Seiten eine vertretbare Länge.
Fazit:
Strenggenommen sind weder McGuires Stil noch die Handlung bahnbrechend, aber doch sehr solide. Insbesondere letzteres ist verzeihlich, da es in Der Atem einer anderen Welt eben nicht um komplexe Handlungen mit überraschenden, unvorhersehbaren Wendungen geht. Stattdessen nutzen die Novellen das Konzept der magischen Tür in eine andere Welt, um zu verdeutlichen, wie intolerant und lebensfeindlich unsere Realität für diejenigen ist, die nicht in die vorgefertigten Schubladen und Normen der Gesellschaft passen. Dabei sind die Erzählungen jedoch keineswegs tragisch oder traurig, sondern zeigen, wie die Kinder in Eleanor Wests Internat zusammenfinden und dort so sein dürfen, wie sie sind.
Über diesen wichtigen Aspekt der Diversität und Akzeptanz hinaus, fällt es an dieser Stelle schwer, eine Liste der Vor- und Nachteile von Der Atem einer anderen Welt zu erstellen. Die Schwächen der Novellen sind zugleich ihre Stärken und vor allem eins: Geschmackssache. Daher hier stattdessen die zentralen Merkmale des Buchs kurz umrissen:
- Sehr viele, sehr unterschiedliche Charaktere
- Recht simple Handlungen
- Eigentümlicher Stil
- Lädt zum Nachdenken ein
Das Produkt wurde kostenlos für die Besprechung zur Verfügung gestellt.
Dieser Artikel ist erschienen bei:
Zauberwelten-Online.de